Bergwandern 60+

Ein (Selbst-)Erfahrungsbericht

von Jügen Koller

Der Mutspitz bei Meran - Foto © Margot Koller

Mit 60+  auf Bergwander-Tour

Von Dorf Tirol zum Mutspitz und den Spronser Seen

Als Mitt-Fünfziger hatte ich vor knapp einem Jahrzehnt den Hausberg der Meraner, den Mutspitz mit rund 2.300 Metern letztmalig „bezwungen“. Die echten Bergmenschen können da zwar nur lächeln, aber für einen ungeübten Flachland-Tiroler aus dem Bergischen Land war das doch schon eine beachtliche Leistung, zumal die letzten einhundert Höhenmeter am Mutspitz ein strapaziöses Geröll- und Felssteigen erfordern. Natürlich hat das alles noch nichts mit „Bergsteigen“ zu tun, aber es war allemal mehr als nur ein  leichtes Aufbautraining für einen Freund der Berge.

„Mit 66 Jahren fängt das Leben an…“, sang einst Udo Jürgens, und mir fielen dazu all die sinnigen Begriffe der Soziologen und Altersforscher ein – wie „Selbsterfahrung sammeln“, „neue Herausforderung nach dem Berufsleben“, „an die Grenzen des eigenen Leistungsvermögens gehen“, „sich neue Ziele setzen“ und, und, und...
Läßt man all das Hochgestochene mal bei Seite, so reduziert sich alles auf zwei Fragen: „Hast du Lust, nochmals eine solche Strapaze am Berg auf dich zu nehmen und bist du dafür fit genug?“
Obwohl ich vom Ehrgeiz körperlicher Selbstbestätigung nicht zerfressen bin, halte ich mich seit Jahr und Tag mit Radfahren und intensivem Heimtraining in Sachen Ausdauer und Kreislauf in ganz guter körperlicher Verfassung. Und so wollte ich es  als 60+Mann doch nochmal wissen, wie es ist, sich nicht den ‚Weg als Ziel’ zu geben, sondern sich für den ‚Gipfel als Ziel’ zu entscheiden.

Mit einem befreundeten Ehepaar nahmen wir also gutes Quartier unterhalb der Seilbahn in Dorf Tirol in Südtirol oder Alto Adige, eine Provinz, die noch immer deutsch-österreichisch geprägt ist, obwohl sie bereits seit Ende des 1. Weltkrieges zu Italien gehört. Das „Buon giorno“ hat das „Grüß Gott“ auf den Bergwanderwegen noch immer nicht ersetzen können.
Obwohl mein Bergfreund R. etliche Jahre  jünger ist als ich und als erstklassig trainierter Marathon-Läufer und Mountain-Biker in einer ganz anderen Liga „spielt“, waren wir uns einig – wir gehen gemeinsam auf Bergtour, haben ein zu erreichendes Ziel und kommen gemeinsam wieder zurück. Das hat etwas mit Bergkameradschaft und Fairness zu tun.
Um wieder etwas „Gefühl“ fürs Bergwandern zu bekommen, hatten wir im Vorfeld eine Wanderung durchs Sauerland unternommen. Das mußte als Training reichen.

Bergkameradschaft und der Lohn der Mühe

Zwei Tages-Touren haben wir von Dorf Tirol aus unternommen.
Die erste  lange Wanderung führte vom Kreuz Tirol aus (bei 800 m -Ortsausgang von Dorf Tirol) über die Bockerhütte (1777 m), weiter über den Saumpfad Nr.22 in Richtung Mutkopf (bei 1684 m). An der Weggabelung zum Mutspitz entschlossen wir uns spontan, obwohl wir schon weit über drei stramme Bergstunden in den Beinen hatten, noch den Mutspitz mit seinen 2300 m zu erklimmen. Diese 1 ½ Stunden Aufstieg waren für mich ein hartes Stück Arbeit, und ich gebe es gern zu – ich war, als wir den  Gipfel endlich erreichten, am körperlichen Limit. Doch ermutigendes Zureden und eine hilfreich ausgestreckte Hand meines Bergkameraden ließen letztlich allen Kleinmut und Schwäche überwinden.


Im Geröllfeld - Foto © Jürgen Koller

Der Lohn der Mühe war ein unbeschreiblicher Blick auf das sonnenüberflutete Meran und das gute Gefühl, sich selbst etwas bewiesen, zugleich den „inneren Schweinehund“ für diesmal überwunden zu haben.
Als wir uns per Handy vom Gipfelkreuz bei unseren Ehefrauen meldeten, um von unserer ruhmreichen Gipfelbezwingung zu berichten, hörten wir, daß die Damen zur gleichen Zeit in Meran beim Shopping waren, später dann beim Cappuccino saßen und dabei immer den Gipfel des Mutspitz im Blick hatten – so unterschiedlich können eben Urlaubsfreuden sein!
Die etwas mehr als 900 m Abstieg bis zur Bergstation Hochmut der Seilbahn wurden, mit einer kurzen Rast auf dem Mutkopf, in etwas mehr als 2 Stunden bewältigt – bei mir mit Schmerzen in Knien und Knöcheln.

Neue Energien

Nach einigen erholsamen Tagen bei reichlichem Essen und Trinken, mit Schwimmen im großen Außen-Pool des Hotels und Zeitungs-Studium über das übliche Sommertheater bundesdeutscher Politik hatten wir uns die Spronser Seen als nächstes zu erreichendes Bergwanderziel vorgenommen.

Diese Seen, zwischen 2126 und 2589 Metern Meereshöhe gelegen, bilden die größte hochalpine Seengruppe Südtirols. Die Becken, in denen sich die Seen befinden, sind während der Eiszeit von den großen Gletschern ausgeschabt worden. Der Langsee (bei 2377 m), der größte der Seen, dient


Auf dem Jägersteig - Foto © Raimund Holzgreve
heute, ebenso wie die anderen Spronser Seen der Trinkwasserversorgung für den Meraner Raum.

Unsere zweite Bergwanderung begannen wir diesmal mit einer Seilbahn-Fahrt zum Hochmut. Mit flottem Bergwanderschritt – wir schafften stets so zwischen 300 bis  400 Höhenmeter pro Stunde – ging es über den Mutkopf zum „Jägersteig“. Dieser Steig, teilweise hart am Abgrund, führt oftmals durch Geröll und große Felsbrocken, zu den kleinen Seen Pfitscher Lacke und Kaser Lacke, stetig weiter bis in die Höhe von 2131 m zur Oberkaser Hütte. Nach einer kleinen Verschnaufpause stiegen wir weiter zum Grünsee (2338 m) und von da zum Langsee bei 2377 m. Wir hatten unser Tagesziel erreicht.

Der See mit seinen grünlichen Wassern, den man in seiner Länge nicht überblicken kann, empfing uns recht unfreundlich – das Wetter hatte umgeschlagen. Waren wir bei strahlendem Sonnenschein und 25 Grad Wärme aufgebrochen, mußten wir am Ziel unserer Wanderung Pullover überziehen. Auch eine Kopfbedeckung war sehr hilfreich, denn die Temperatur war bei leichtem Schneefall auf „0“ Grad gefallen. Es zahlte sich also aus, wetterfeste und warme Kleidung im Rucksack mit hoch in die Berge geschleppt zu haben.


Die Kaser Lacke - Foto © Raimund Holzgreve

Ein freundlicher Techniker, den wir bei der Kontrolle elektronischer Gerätschaften antrafen, erklärte uns, daß der Wasserstand des Langsees automatisch vermessen und der Pegelstand per Radiosignal ins Tal zum Wasserwerk gesendet wird. Übrigens mußte er, wie er uns erzählte, bis zu seinem Arbeitsort genau so wie wir nach oben kraxeln – sein Chef würde aber ab und an mit dem teuren Hubschrauber fliegen. So ist nun mal die Arbeitswelt eingerichtet.

Buttermilch oder "Weizen" als Kraftquelle?

Den Abstieg unterbrachen wir beim Oberkaser. Ich wollte mich mit einem Nudel-Süppchen und einer Buttermilch stärken. Mein Bergkamerad R. brauchte nur ein großes „Weizen“, um seine Kräfte wieder zu aktivieren.

Nach meinen Erfahrungen beim Abstieg vom Mutspitz schwante mir, daß der Rückweg - diesmal nahmen wir den Weg über die Bockerhütte - eine weit größere Herausforderung sein würde als der Aufstieg. Bis zum Tiroler Kreuz   galt es über 1300 Höhenmeter hinab zu steigen. Aber es halfen alle kläglichen Gedanken nichts – es galt die Zähne zusammenzubeißen und gleichmäßigen, konzentrierten Schrittes diese Bergtour zu beenden.

Meine Füße wund, Knöchel und Kniegelenke  kaum noch spürend, waren wir  am späten Nachmittag wieder in unserem Hotel.
Der Körper hatte durchgehalten, die physische Erschöpfung war bald vorüber und die Schmerzen


Strapazen überstanden! - Foto © Raimund Holzgreve
verloren sich –  was zählte, war das schwer zu beschreibende Gefühl, mit  „60+“ sich nochmals am Berg frei und unbeschwert gefunden und sich bewiesen zu haben.
Ein Hauch Wehmut bleibt in der Erinnerung: als wir nämlich beim Abstieg von einer Gruppe junger Frauen, hoch bepackt mit  Wanderrucksäcken, schwatzend, lachend und freundlich grüßend, so leichtfüßig und unbeschwert überholt wurden – eben der Vorzug der Jugend.

Aber auch wir hatten unsere Zeit!