Studenten-Schicksal

von Karl Otto Mühl
Studenten-Schicksal
 
Wenn ich meine Uhr nachstellen oder kontrollieren will, schaue ich um ungefähr neun Uhr aus dem Fenster. Wenn dann hinter der Hausecke der alte Herr Voosen hervorkommt, prüfend in den Himmel schaut, die frische Luft schnuppert und sich mit freudig blitzenden Augen auf den Morgenspaziergang begibt, weiß ich, es ist genau neun Uhr. Meine Uhr mag falsch gehen, Herr Voosen nicht.
Muß ich gestehen, daß ich ihn beneide? Ich beneide ihn um seine positive Lebenseinstellung, seine Freude an der Natur, seine bescheidene, anpassungsfähige Frau, seine finanziell erfolgreiche Laufbahn als Getränkehändler, seinen akademisch gebildeten Sohn Marvin und die günstige Heirat desselben.
 
Alles dies ist mir versagt geblieben. Meine Frau geht völlig in ihrer Arbeit als Vorsitzende des Vereins zur Hilfe für seelisch gebrochene Menschen auf, ein Sohn ist mir versagt geblieben, meine Tochter ist mit mir wegen des Streits um eine Familienkatze vor Gericht gezogen, und mein heißester Wunsch, Sanskrit zu studieren, ist auch nie erfüllt worden. Die Verhältnisse haben es nicht erlaubt. Stattdessen mußte ich mich mit meiner Position als Oberbuchhalter abfinden, eine Tätigkeit, die mir allerdings, ich gebe es zu, als einziges immer wieder große Befriedigung verschafft.
Wenn ich soeben von meinem Neid gesprochen habe, so war das übertrieben. Ich bringe es keineswegs mit Herrn Voosen in Verbindung, daß mich das Schicksal in so vieler Hinsicht benachteiligt hat. Und überhaupt war ich an den günstigen Entwicklungen in seiner Familie fast immer irgendwie beteiligt, er hat in fast allen Fällen bei mir Rat gesucht. Er ist, wie viele gutgläubige Menschen, einfach zu weltfremd, und darum ist er auch immer wieder auf meine Meinung und die seines Sohnes Marvin angewiesen.
 
Der Letztere hat mich schon öfter in Anspruch genommen, wenn es darum ging, bei seinem Vater Verständnis für die Bedürfnisse seines Sohnes zu wecken. Ich schätze Marvin auch sehr. Ich erkannte schön früh, daß er höheren Zielen zustrebt, ein sicheres Urteil besitzt und eine sorgfältige Auswahl bei seinen Bekannten trifft. Er ist ein junger Mensch von Niveau, das ich mir auf Grund meines Elternhauses nicht in gleichem Maße erwerben konnte. Darum habe ich mich gerne bereit erklärt, mit ihm und seinem Freund Sven, der von Beruf Versicherungsvertreter ist, Skat zu spielen. Ich wundere mich ehrlich, wie oft ich bei diesen Spielen gewinne. Es stimmt mich fröhlich, ich gestehe es, und darum übernehme ich nicht selten die Zeche für die beiden jungen Leute, deren Anerkennung ich wohltuend empfinde. Sie sagten einmal, daß sie mich schätzen.
Die Unterstützung Marvins meinerseits fing schon bei der Auswahl einer geeigneten Studenten-Wohnung für ihn an. Herr Voosen, der es von zuhause einfach nicht anders kannte, dachte an eines dieser deprimierenden, möblierten Pensionszimmer in einem Hinterhof, ohne Ausblick ins Grüne, ohne Hausmeister-Service, kurz, eine Unterkunft, die von vorneherein einen Schatten auf das wissenschaftliche Streben seines Sohnes geworfen hätte.
Nun, ich habe das verhindern können, Marvin fand eine passende Dreizimmerwohnung, und ich durfte ihm sogar bei der Auswahl der Teak-Möbel beratend zur Seite stehen. Ich habe es bedauert, daß er nach einem halben Jahr wieder ausziehen mußte, weil da ein Nachbar war, der ihn nicht grüßte und, wie Marvin sagte, auch immer abschätzig anblickte. Aber auch die neue Wohnung in einem Apartment-Haus entsprach ganz meinen Vorstellungen.
 
Herr Voosen hat inzwischen mit meiner Beratung eine finanzielle Entlastung erreicht. Er hat seinen Getränkehandel verkauft und damit die finanziellen Mittel zur Verfügung, mit denen sich mühelos die Kosten für Marvins Studium decken lassen. Ich selbst mußte mich allerdings erst daran gewöhnen, daß hinter den Schaufenstern auf der Vorderseite unseres Hauses jetzt ganz andere Leute Getränkekästen hin und herschleppen.
Herr Voosen hat jetzt mehr Zeit zum Spazierengehen, was zweifellos ein Gewinn ist. Manchmal sehe ich ihn im Gespräch mit Ronny, einem Studenten, der einen Raum im Souterrain bewohnt. Morgens treffen die beiden manchmal aufeinander, wenn Ronny etwas übernächtigt von der Nachtschicht in der Gießerei kommt. Er verdient sich so sein Geld für das Studium. Ich frage mich, ob ihn sein Vater nicht besser unterstützen könnte. Herr Voosen tut es ja bei seinem Sohn auch. Soviel ich weiß, hat Ronnys Vater schließlich eine feste Anstellung im Zustelldienst einer privaten Postgesellschaft. Für das Fortkommen seiner Kinder sollte man Opfer bringen.
 
Marvin wandte sich dann intensiv dem Studium der Elektrotechnik zu. In seinen freien Stunden spielte er mit Leidenschaft Golf, wobei er viele wertvolle, zukunftweisende Beziehungen aufbauen konnte. Das finde ich besonders bewundernswert. Ich selbst hatte solche Beziehungen zu Männern der Wirtschaft leider nie. Ich kenne sie nur als Vorgesetzte.
Weniger erfolgreich war Marvin auf der Suche nach einer geeigneten Freundin oder Gefährtin. Mich wundert das nicht. Für Menschen von seinem Bildungsstand gibt es keine große Auswahl von geeigneten Frauen.
Wenn ich nicht so gut informiert gewesen wäre, hätte es allerdings beim Kauf eines geeigneten Personenwagens zu einem Fehlgriff kommen können. Herr Voosen neigte zu einem Gebrauchtwagen, aber glücklicherweise konnte ich von den Reparaturen berichten, die ich bei meinem fünfundvierzig PS starken Kleinwagen hatte, der gebraucht erworben worden war. Das hat denn Herrn Voosen überzeugt, und er hat dem Kauf eines neuen, grundsoliden, großvolumigen Wagens zugestimmt.
Natürlich gehört ein solches Auto bei Reparaturen in die Hände von Fachleuten. Als Herr Voosen vor einer Woche zu mir kam und mir eine Rechnung von zwölfhundert Euro zeigte - es ging um einen Scheibenwischermotor für den Mercedes -, mußte ich ihn erst mit dieser Tatsache vertraut machen. Marvin hat sich für seinen Vater bei mir entschuldigt. Dieser verstehe eben nichts von Autos. Da sei er, Marvin, froh, daß er bei mir so viel Verständnis finde, obwohl ich doch eigentlich Buchhalter sei.
 
Aber auch für Herrn Voosen wußte ich einen Ausweg. Ich machte ihn auf eine freiwerdende Wohnung – ein freundlicher Nachbar zog zurück in den Kosovo – im Hinterhaus aufmerksam. Man verläßt sie durch den Kellerausgang, wird dabei aber so gut wie nie durch jemanden gestört. Herr Voosen und seine Frau haben sie inzwischen bezogen und sparen dadurch einen beträchtlichen Teil der Miete, sodaß sie immer noch mit Leichtigkeit die Ausgaben für Marvin decken können.
Für Marvin wurde ein Umzug in eine Penthouse-Wohnung unumgänglich. Die Tabakdünste, die von dem Balkon unter ihm heraufdrangen, drohten ihn wahnsinnig zu machen. Er hatte sich ja erst drei Tage vorher das Rauchen abgewöhnt. Wer wollte einem Nichtraucher solch eine Situation zumuten! Der Umzug verursachte allerdings einiges an Kosten, die von Marvins Eltern wie immer getragen wurden. Sie schienen ihre Unvermeidbarkeit eingesehen zu haben. Jedenfalls haben sie sich nicht ablehnend geäußert.
Jetzt besteht allerdings noch ein anderes Problem. Marvin will nach zehn Jahren Studium die Fachrichtung wechseln. Auch das verstehe ich. Seit Jahren verlangt man an dieser Universität von ihm, auszurechnen, wie oft man bei der Konstruktion eines Generators einen Draht um eine Spule wickeln muß. Ein Mann wie Marvin mit seinen gesellschaftlichen Beziehungen und seinem Niveau soll sich mit dem Umwickeln von Spulenkernen auseinandersetzen! Ich finde das grotesk.
Damit ist jetzt aber Schluß. Marvin wird Psychologie studieren. Daneben verwendet er nach wie vor viel Liebe auf die moderne und komfortable Ausstattung seiner Wohnung. Eine Freundin würde ihm sicher dabei nützlich sein, aber da muß man ihm Zeit lassen. Herr Voosen hat dabei, das muß man anerkennen, große finanzielle Opfer gebracht.
 
Ronny ist inzwischen ausgezogen. Er hat sein Studium abgeschlossen und arbeitet als Vertreter auf Provisionsbasis für eine Firma in Düsseldorf, die Ungeziefer-Entfernungs-Chemikalien herstellt. Der am leichtesten zu erreichende Kundenkreis, sagte Ronny, seien dabei die eigenen Verwandten. Mit dem einfachen Abschluß einer Universität kommt man eben nicht sehr weit. Wir vermissen ihn aber, er war ein freundlicher, junger Mann.
 
Inzwischen sind wieder einige Jahre vergangen. Marvin studiert noch. Mit Einkünften aus einer Tätigkeit ist freilich aus Altersgründen bei ihm nicht zu rechnen. Aber diese Fülle von Informationen, die Marvin gesammelt hat, ist kaum zu übertreffen.
Ich muß etwas nachtragen. Vor einigen Wochen kam er zu mir und berichtete, daß er seine wahre Berufung erkannt habe: Er koche gern.
Auch in diesem Falle habe ich ihm helfen können. Ich habe ihm eine Stelle in unserer Kantine verschafft. Da kocht er nun jeden Tag. Ich habe den Eindruck, daß er glücklich ist, wenn er in einem Topf rühren kann.
Und er kocht gut. Seine Eltern kommen jeden Tag zum Mittagessen in unsere Kantine. Es macht mich zufrieden, denken zu dürfen, daß sich der Aufwand für ihren Sohn gelohnt hat.
Und dann ist wieder etwas Überraschendes passiert. Meine Frau und ich haben die Kleidung schon bereitgelegt, aber Herrn Voosen mußte ich bei Kauf eines gesellschaftsfähigen Anzugs beraten.
Sein Sohn Marvin heiratet nämlich. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie froh es mich macht, daß sich nach so vielen Jahren harter Arbeit ein so glückliches Ereignis anbahnt.
Obwohl er nämlich nun in ganz anderen Kreisen als vorher verkehrte, hatte Marvin den Golfsport beibehalten. Auch dies hat sich als günstig erwiesen. Er hat die Tochter des Inhabers einer Versicherungsagentur kennengelernt und wird sie heiraten. Er sagte mir, er müsse wohl bald den ihm lieb gewordenen, neuen Beruf aufgeben, und sich der Verwaltung des Familienvermögens zuwenden.



 © Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012