Literaturbiennale Wuppertal (1)

Tagebuchnotizen

von Jürgen Kasten
Jürgen Kasten - Foto © Frank Becker
Tagebuchnotizen (1)

von der
 
Literaturbiennale Wuppertal, 6.-16. Juni 2012
 
Meine Redaktion befindet sich im wohlverdienten Urlaub. Zeit für mich, in Ruhe die erste Wuppertaler Literatur-Biennale zu genießen. Viele Veranstaltungen laufen zeitgleich, eine subjektive Auswahl diverser Lesungen ist daher unumgänglich. Die Auftaktveranstaltung in der Stadthalle habe ich schon mal verpaßt; aber über diesen Dingen muß man stehen.
 
07. Juni 2012 - Botanischer Garten
„Vom Stehen über den Dingen“ nannte sich auch die Spazierganglesung im Botanischen Garten der Hardtanlagen, hoch über der Stadt Wuppertal.
Pünktlich zum Auftakt am Mittag zeigte sich die Sonne den zahlreichen Zuhörern.
André Poloczek, eher bekannt als Zeichner mit spitzer Feder, eröffnete den Literaturspaziergang aus seiner Sicht zum Thema Freiheit.
Als Aushilfsführer im Museum für Frühindustrialisierung brachte er einer Schulklasse den Freiheitskampf der "Webber" nach Gerhard Hauptmann näher. Da die Schüler heutzutage nur noch die Ohren spitzen, wenn es um das world wide web geht, übersetzte er Hauptmanns Drama über die
 

Rebekka Möller - Foto © Jürgen Kasten
schlesischen Weber in eine für die Kinder verständliche „Web-Sprache“. In einer anderen Geschichte subsumiert er den Begriff „Frei“ in das Wort Freibad, einem Ort absoluter Unfreiheit.
Lachsalven des Publikums begleiteten auch Mitch Heinrichs vollen Körpereinsatz beim Vortragen seiner Variationen des Themas „Buntspecht“.
Rebekka Möller, einzige Frau und jüngste Literatin der ansonsten „alten Männerriege“ durfte schon in Kindheitstagen die Segnungen der Freiheit erfahren, dank Schwimmflügel und Stützräder.
Die „alten Männer“ brachte Ulrich Land ins Spiel. Er konzipierte diese Veranstaltung, moderierte launisch die Teilnehmer an und las eine Geschichte des jungen Mannes, der die unfreie DDR verließ, im verbotenen Ausland Griechenland Urlaub machte und brav über die grüne Grenze zurückkehrte.
Dieter Jandt fragte „Ist dies die Wupper?“, um sodann von der Freiheit zu berichten, sich sonst wohin zu ergießen, und sei es bis zum Amazonas.
Ernst wurde es bei Wolf von Wedel, der sich der Frage stellte „wie stehe ich zu meinem Land?“, und geradezu blutrünstig in Jochen Rauschs nach einer wahren Begebenheit erzählten Geschichte von dem Arbeitslosen Jürgen Tschiedel, der für ein paar Mark seine betagte Nachbarin erschlug, um seinen Deckel in der Kneipe zu bezahlen (Vorgetragen aus seinem Buch „Trieb“).
Hans Werner Ottos Freiheitsgelüste stießen an Grenzen. „Ob ich einen Flügel habe?“. Diese reflektierte Frage konnte er nur resigniert mit dem Seufzer beantworten „Das ist doch nur ein Klafünf“.
Auch der bekannte Karikaturist und Schöpfer skurriler Literatur, Eugen Egner, wurde im Publikum gesichtet. Dem Vernehmen nach mag er nicht mehr vorlesen, sondern sich lieber mit anderen dem Genuß des Zuhörens hingeben. Immerhin ist er im neuen Kulturmagazin „Karussell“ vertreten, das noch vorzustellen sein wird.


Literatur-Spaziergänger (v.l.): Dieter Jandt, Rebekka Möller, Ulrich Land, André Poloczek, Michael Heinrich, Jochen Rausch,
Hans Werner Otto, Wolf Christian von Wedel Parlow
- Foto © Jürgen Kasten
Anschließend ging es in den Biergarten des Hardt-Cafes, das sich dem übergeordneten Thema „Freiheit“ auf seine Art annahm. Tische, Stühle und Bänke demonstrierten Unfreiheit. Ihre Stahlseilverbindungen verhinderten das Zusammenrücken der Besuchergruppen. Trotzdem ein wundervoller Fronleichnam-Mittag.
 
Am Abend dann eine Generation-Stage oder auf gut Deutsch „Generationstage“. André Wiesler und Jörg Degenkolb-Değerli konzipierten die Lesung unter dem Titel „Die Freiheit nehm´ ich mir“. Auf der Bühne des TalTonTheaters standen außer den Genannten noch David Grashoff als Vertreter der jungen Autorengeneration neben den etablierten „Senioren“ Christiane Gibiec, Karl Otto Mühl und Hermann Schulz. Ein wundervolles Sextett, das mal ernst, mal lustig und auch deftig seine Texte vortrug.

Hermann Schulz - Foto © Becker
Hermann Schulz, lange Jahre Leiter des Peter Hammer Verlages und nun international erfolgreicher Autor, sprach noch einmal den Freiheitsbegriff an, der ja nicht nur den arabischen Frühling symbolisiert. Hierzulande war auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft das Hambacher Manifest von 1832 ein Meilenstein. Ebenso aber auch der Freiheitskampf in Nicaragua, an dem einige Wuppertaler, auch Schulz, mitwirkten. Nicht zu vergessen die 68er, die in unserer Gesellschaft einen Wandel einleiteten.
Profaner ging es mit Christiane Gibiec weiter. In ihrem Kurzkrimi ließ sie Lissy ihren Ferdi zu Grabe tragen. Es waren wohl einige Schlaftabletten zu viel, die sie ihm mit dem Abendtrunk servierte. Für die von dem Apotheker illegal verkauften Pillen hatte der nun Tribut zu zahlen. Lissy forderte seine Liebe ein.
Karl Otto Mühl haderte mit dem Mikrophon, ließ ihm schließlich seinen Willen. Seine Stimme brauchte keine Verstärkung. Er berichtete von Bodo, der dem Duft frisch geschnittener Äpfel nicht widerstehen konnte. Silke Tückmantel umwob solche Frische. Von seiner

Karl Otto Mühl - Foto © Becker
Frau ließ Bodo sich ein Geständnis nach dem anderen abringen, denn Fräulein Tückmantel war nicht sein einziger Seitensprung. Ihn trog der Gedanke, seine Geständnisse würden ihn die Freiheit der Absolution bescheren.
Die junge Garde der Poetry Slammer und „Wortpiraten“ verband den Freiheitsbegriff überwiegend mit der vermeintlichen Freiheit des digitalen Netzes. Sie geißelten die Unbekümmertheit der Jugendlichen, die sich im Spinnennetz von facebook, you tube, SchülerVZ und anderen angeblich sozialen Netzen verfangen. Ihre Geschichten trugen sie lustvoll als Satiren vor.
Der Schlußakkord schließlich eine Gemeinschaftslesung: Jörg Degenkolb berichtete von einer e-Mail, deren angehängter Link mit „absoluter Freiheit“ lockte, so man ihn denn öffnete. Was wird wohl weiter geschehen? Die Autoren des Abends spinnen jeder auf seine Weise die Geschichte weiter, treiben sie voran und nennen sie abschließend „342 Jahre“, die Summe ihrer Lebensjahre.
Eindrucksvoll zeigte sich, daß ein Zusammentreffen verschiedener Autoren-Generationen durchaus fruchtbare Ergebnisse gebiert.
 
Freitag, 08. Juni 2012, Foyer des Nochschauspielhauses
Heute entschied ich mich, etwas über den rassistischen Alltag im vielfarbigen Wuppertal und anderswo zu erfahren. Von Wuppertal war nicht viel die Rede, dafür vom Anderswo, vor allem vom Kongo. Ulrich Klan stellte die Musikgruppe (RAP) Lopanga Ya Banka vor, in der Veranstaltung präsentiert von der Armin T. Wegner Gesellschaft. Die Erklärung lieferte er vorab: Wegners Schaffen könne als „moderne antirassistische Literatur“ bezeichnet werden und was die jungen kongolesischen Rapper auf der Bühne darbieten, ist Lyrik mit politischen Aussagen.

Lopanga Ya Banka - Foto © Jürgen Kasten
Die melodische Musik überraschte angenehm. Die gesungenen Texte waren leider nicht zu verstehen; wurden aber anschließend von der Gruppe selbst ausgezeichnet übersetzt und erläutert. Die Sänger und Dichter sind in Wuppertal beheimatet und zur Schule gegangen, fühlen sich aber ihrem Heimatland verbunden und erwägen dorthin zurückzukehren, um beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Demokratische Republik Kongo heißt es, „wir nennen es nur „Kongo“ sagt die Gruppe sarkastisch. Ihre Lieder sind aufrüttelnd. In „Mpona Kongo“ rufen sie junge Kongolesen auf, sich zu engagieren, nicht auf Almosen zu warten und das Schicksal des Landes nicht den Imperialisten zu überlassen. Gemeint sind westliche Staaten und Firmen, die sich an den Bodenschätzen des Landes bereichern und mit ihren Waffengeschäften die afrikanischen Konflikte immer weiter befeuern, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Song „Eyano“ behandelt die Themen Straßenkinder und Kindersoldaten, „Mokanda mwa Ebale“ das Elend der Mittelmeerflüchtlinge, sollten sie denn je den Boden Europas erreichen.
Sechs Lieder mit ähnlicher Thematik wurden vorgetragen. Cecil Arndt moderierte zwischendurch den Abend und regte zur Diskussion mit den Zuhörern an. Schnell wurde deutlich, daß die Frage, was als Rassismus zu verstehen ist, überaus kontrovers gesehen wird. So blieb am Schluß des beeindruckenden Abends das Motto der Veranstaltung „Freiheit? Wessen Freiheit?“ als Frage offen.
 
Samstag, 09. Juni 2012, Galerie Epikur
„Karussell“, die neue Zeitschrift für Literatur aus dem Bergischen wurde vorgestellt. Bei vergangenen Lesungen verloren sich schon mal um die 20 Zuhörer in den wunderschönen Räumen der Galerie Epikur. Heute war es rappelvoll. Christiane Gibiec moderierte und staunte ein ums andere mal über das Interesse des Publikums, unter ihnen eine erkleckliche Anzahl Autoren, die ihre Werke vortrugen. Ingrid Stracke und Dorothea Renckhoff begannen mit Lyrik. Weiter ging es mit Prosa von Dorothea Müller, Karl Otto Mühl, Hans Werner Otto, Stefan Seitz, Safeta Obhodjas, Hermann Schulz, Andre
Wiesler und Michael Zeller. Im 110 Seiten umfassenden Heft sind insgesamt 30 Autoren vertreten. Unter ihnen auch die vor einigen Jahren verstorbene Grande Dame der Wuppertaler Literaturszene, Jo Micovich und natürlich Armin T. Wegner mit „Brot! Friede! Freiheit!“.
Die erste Ausgabe der Literaturzeitschrift ist zu einem Preis von € 9,00 erhältlich (Verlag HP Nacke, ISBN: 978-3-942043-85-4). HP Nacke finanzierte den Druck, fertigte das Layout und wird auch die zweite Ausgabe herausbringen. Ob es danach weiter geht, liegt an Ihnen, liebe Leser. Seien Sie versichert, es lohnt sich. Ausgabe 1 beinhaltet eine Tolle Mischung aus Lyrik und Prosa von ernst bis heiter und präsentiert ein Spektrum unterschiedlicher Autoren vom Alter her und ihren Interessenschwerpunkten.
Die Lesungen wurden übrigens musikalisch von Ute Völker und Dietrich Rauschtenberger untermalt.
 
 
Sonntag, 10. Juni 2012, Barmer Bahnhof
Heute mal große europäische Literatur: Christoph Ransmayer liest aus seinem 1994 erschienenen Roman „Morbus Kitahara“. Da er nur vier Lesungen im Jahr durchführt, ist dies schon ein besonderes Highlight. Entsprechend viele Zuhörer fanden sich ein, füllten aber den großen Saal nicht ganz. Überdies sah man überwiegend bekannte Gesichter, die auch schon bei anderen Veranstaltungen waren. Dem allgemeinen Wuppertaler Publikum fehlt es wohl noch am Bewußtsein, welche Schätze die Literatur zu bieten hat.

Christoph Ransmayr - Foto © Jörg Steinmetz
Der grandiose Harald Eller improvisierte in den Lesepausen auf seinem Kontrabaß und Christoph Ransmayer las Buchabschnitte, in denen seine Protagonisten vorgestellt werden. Ihre Wege kreuzen sich kurz nach dem Krieg in dem zerstörten Kurort Moor. Die Politik der Sieger sieht vor, das gesamte Land zu entindustrialisieren und auf den Stand einer Agrargesellschaft zu reduzieren. Dorthin zurück kommt Bering der Schmied. Mörderbanden und Schutzgelderpresser bedrängen ihn. Bering erschießt einen von ihnen.
Der ehemalige Zwangsarbeiter Ambras wird jetzt Aufseher über eben jenen Steinbruch, in dem er versklavt wurde. Als Wohnsitz nimmt er die Villa Flora in Besitz, muß zuvor aber die im Park streunenden wilden Hunde erschlagen.
Schließlich taucht noch Lily auf. Sie hat in den Bergen ein ganzes Arsenal schwerer Waffen gefunden und geht auf die Jagd. Ihre Beute sind Mitglieder der marodierenden Banden.
All dies ist äußerst grausam und wird wortgewaltig im Detail beschrieben, doch kommt beim Zuhören kein Grausen auf. Mit Ransmayers sanfter Stimme und seinem leichtem Wiener Dialekt werden selbst diese Passagen zur reinen Poesie. Ein Genußabend!
Der Schmied Bering erkrankt übrigens später an einer Netzhautverschattung, der Morbus Kitahara (Fischer Verlag, Broschur ISBN: 978-3596137824; Gebunden ISBN: 978-3100629081)
 
Montag, 11. Juni 2012, Aula der Rudolf-Steiner-Schule
Heute findet dort eine öffentliche Generalprobe statt. Gerold Theobalt führt durch den Abend. Er hatte auch die Idee zu dieser Aufführung. Zusammen mit anderen Größen der Deutschen Theaterlandschaft sichtete er eine Vielzahl neuer Stücke und wählte drei aus. In Form szenischer Lesungen wurden sie von jungen Dramatikern auf die Bühne gebracht (Kieran Joel, Jakob Fedler, Peter Wallgram) und von Schauspielschülern der Folkwang Universität der Künste exzellent dargeboten.
Zunächst „Königskinder“ von Thomas Paulmann. Sein Stück wurde bereits beim Autorenwettbewerb des Bundes Deutscher Amateurtheater ausgezeichnet. Angelehnt an das Romeo und Julia-Thema versuchen ein deutscher Junge aus zerrütteter Familie und ein westlich orientiertes türkisches Mädchen mit konservativ muslimischem Familienhintergrund, zueinander zu finden und enden in einem Desaster.
Michael Decar richtete sein Stück „Waldemar Wolf“ schon am BAT Berlin und dem Maxim Gorki Theater szenisch ein. Sein versponnener Protagonist Cornelius, Lebenskünstler mit philosophischem Touch, trifft auf die Liebe seines Lebens und bringt sie in seiner Wohngemeinschaft unter. Hornbach, Mitbewohner und Macho, macht Cornelius das Mädchen abspenstig. Als dann noch Cornelius` ehemalige Freundin vom Lande auftaucht, zieht sie ihn wieder in die Welt, der er entfliehen wollte.
Der dritte und radikalste Beitrag stammt von Miranda Huba, der jungen kanadischen Autorin und Performance-Künstlerin. Sie inszeniert zur Zeit in New York und wird daher die Premiere nicht begleiten.


Foto © Jürgen Kasten

Drei Frauen durchleiden alptraumhaft ein Leben voller Mißbrauch, Entwürdigung und Ausnutzung. Ihre Reise über sechs imaginäre Weltflughäfen mit Namen wie „Liebe“ und „Konsum“ beginnt mit drei, fünf und acht Jahren. So heißen sie auch: 3, 5 und 8. Als Gebärmaschinen mißbraucht müssen sie am Ende desillusioniert vernehmen, daß ihnen nicht einmal ihre eigenen Kinder gehören dürfen. Nach all der erlittenen Pein und Schmach ist das zuviel. Ihre letzte Station endet im „Flughafen der zerbrochenen Träume“. In einem kollektiven Wutrausch erschlagen sie ihre Peiniger, inszeniert mittels einer wilden Kissenschlacht.
Gemessen an den wenigen Zuschauern und einigen Pressevertretern dieser Generalprobe, darf der Beifall als rauschend bezeichnet werden. Gewürdigt wurden damit Autoren, Dramatiker und das mit großer Spielfreude agierende Ensemble, das professionell auftrat.
In der nächsten Spielzeit der Wuppertaler Bühnen werden Wallgram und Fedler hier mit einer neuen Inszenierung präsent sein.
 
Zwei Tage Literaturpause, jedenfalls öffentliche.

Teil 2 morgen!