El Greco und die Moderne

Das Düsseldorfer Museum Kunstpalast präsentiert „den Griechen“ als Ahnherrn der Avantgarde

von Rainer K. Wick/ARe

El Greco, Detail aus Anbetung der Hirten
1596-1600 (Foto: Katalog)
El Greco und die Moderne
 
Das Düsseldorfer Museum Kunstpalast
präsentiert „den Griechen“
als Ahnherrn der Avantgarde
 
 
„Heute entdeckt man El Greco“
 
Kunstsoziologie und Rezeptionsästhetik verdanken dem Dadaisten Marcel Duchamp eine klassisch gewordene Formulierung, nämlich die, daß es die Betrachter seien, die „die Bilder machen“; oder anders gesagt, daß sich das Kunstwerk erst (und immer neu) im Zuge seiner Rezeption erfüllt. Und Duchamp fährt fort: „Heute entdeckt man El Greco; das Publikum malt seine Bilder dreihundert Jahre nachdem der eigentliche Urheber sie gemalt hat.“ Daß Duchamp zu Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerechnet El Greco nennt, ist natürlich alles andere als zufällig. Denn „der Grieche“, wie die Spanier ihn kurz und bündig nannten, erlebte nach einer längeren Phase, in der er weitgehend in Vergessenheit geraten war, um 1900 gleichsam eine zweite Geburt, wurde er nun noch doch gleichermaßen von Kunsthistorikern und Künstlern wie auch vom Publikum mit einem neuen, veränderten Blick auf die Vergangenheit wahrgenommen.
El Greco interessiert in doppelter Hinsicht: erstens als ein Künstler, dessen extraordinäres Œuvre in seiner eigenen Zeit – der zweiten Hälfte des 16. und dem frühen 17. Jahrhundert – absolut singulär ist, und zweitens als ein Maler, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Schaffen zahlreicher moderner Künstler maßgeblich beeinflußt hat. Genau dieses doppelte Interesse markiert auch den konzeptionellen Ansatz der aktuellen Greco-Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunstpalast. Circa 40 meist hochkarätigen Gemälden von El Greco werden rund 100 Arbeiten von Künstlern der Klassischen Moderne gegenübergestellt, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts explizit oder implizit auf Greco bezogen – von Paul Cézanne über Pablo Picasso, Robert Delaunay, Franz Marc, Oskar Kokoschka, Egon Schiele, Max Beckmann, Heinrich Nauen bis hin zu Wilhelm Lehmbruck, um nur einige namentlich zu nennen.
 
Vom Byzantinismus zum Manierismus
 
El Greco, 1541 als Doménikos Theotokópoulos auf Kreta (zur damaligen Zeit venezianisch) geboren, entstammte künstlerisch einem durch und durch konservativen Milieu, nämlich dem der griechisch-

El Greco, Entkleidung Christi 1580-1595
Foto: Museum Kunstpalast

byzantinischen Ikonenmalerei. Um 1560 verließ er Kreta und kam nach Venedig, wo er 1563 zwar noch als „Meister der Ikonenmalerei“ Erwähnung fand, sich aber unter dem Einfluß Tizians und vor allem Tintorettos vom Byzantinismus ab- und dem Manierismus zuwandte. 1570 begann ein langjähriger Aufenthalt in Rom, doch waren die Jahre in Italien nicht von dem erwarteten Erfolg gekrönt. Spanien war zur damaligen Zeit die Großmacht Nummer 1. König Philipp II. hatte 1561 den Hof von Toledo nach Madrid verlegt und bald darauf begonnen, 45 km von Madrid entfernt die gigantische Schloß- und Klosteranlage El Escorial errichten zu lassen. Grecos Hoffnungen, hier als Hofmaler zu reüssieren, erfüllten sich allerdings nicht, so daß er sich in Toledo niederließ, wo er bis zum seinem Tod 1614 lebte und sein umfangreiches, unverwechselbares Œuvre schuf.
Hugo Kehrer, einer der „Entdecker“ Grecos, hat 1920 im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches „Die Kunst des Greco“ (1. Auflage 1914) folgendes geschrieben: „Er rüttelte am Quaderbau der Renaissance mit ihrem einseitigen Formalismus. Die Renaissance wußte nicht mehr, was Seele heißt, kannte nicht mehr die Sehnsucht nach dem Unendlichen, das Metaphysische.“ Damit wurde eine Sichtweise auf den Künstler zementiert, die vor allem im frühen 20. Jahrhundert populär war und im Umkreis des deutschen Expressionismus allgemein akzeptiert wurde: Greco als der Maler der Spirituellen, ja als malender Mystiker in Zeiten der spanischen Inquisition. Heute scheint erweisen, daß Greco keine sonderlich ausgeprägten mystischen Neigungen hatte. Eher wird er, der eine große Bibliothek besaß und ein Malereitraktat plante, aktuell als „Intellektueller, [als] ein ‚pictor doctus’“, also als ein gelehrter Maler „im italienischen Sinne“ (Michael Scholz-Hänsel) diskutiert.
 
Maler des Religiösen
 

El Greco, Laokoon 1610-1614 - Foto: Museum Kunstpalast
Gleichwohl war Greco in erster Linie ein Maler des Religiösen, was sich allein schon daraus ergab, daß die Kirche sein hauptsächlicher Auftraggeber war. Die großzügig gehängte Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunstpalast versammelt eine Reihe erstrangiger Arbeiten des Künstlers, die dies eindrucksvoll dokumentieren, darunter Schlüsselwerke wie die „Entkleidung Christi (El Espolio)“ (zwischen 1580 und 1595; Alte Pinakothek, München), „Christus am Ölberg“ (1590er Jahre; National Gallery, London) oder „Die Öffnung des Fünften Siegels“ (um 1608-1614; Metropolitain Museum of Art, New York). Aber Greco hat nicht nur christliche Themen bearbeitet. Mit seinem „Laokoon“ (um 1610-1614; National Gallery of Art, Washington) gelang ihm eine der eigenwilligsten Interpretationen eines antiken Stoffes, mit der er sich formal dezidiert vom Vorbild der 1506 in Rom gefundenen hellenistischen Laokoon-Gruppe absetzte und den Vorfall – den Tod des trojanischen Priesters und seiner Söhne durch zwei Schlangen – vor die Kulisse Toledos verlegte.
Grecos ausdrucksstarke, affektgeladene Kompositionen verweigern sich entschieden der Norm des Klassischen, die in der Hochrenaissance einige Jahrzehnte zuvor noch als verbindlich galt. Ihre Formensprache ist bewußt antiklassisch, was sich vor allem in den überlängten Körpern, Gesichtern und Gliedmaßen und im manieristischen Figurenideal der „figura serpentinata“ mit ihren verschraubten Drehbewegungen manifestiert. Der gestische Rhythmus der Formen korrespondiert mit einer vibrierenden Farbigkeit, in der schweflige Gelb-, fahle Blau- und kalte Rottöne aufflackern, während das Inkarnat – manchmal fast leichenbleich – in Grau-Rosa-Tönen changiert.
 
Greco-Manie und Expressionismus
 
Das alles, gepaart mit dem in Nahsicht enorm lockeren, nervös zuckenden Pinselduktus, mutet an wie eine Moderne avant la lettre, und es ist rezeptionsgeschichtlich höchst aufschlußreich zu sehen, wie

Heinrich Nauen, Beweinung Christi 1913 - Foto: Museum Kunstpalast
Greco dann in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert unter den Vorzeichen neuer künstlerischer Entwicklungen von der Kunstgeschichte und von der Kunst selbst aufgenommen wurde. In Deutschland war es der Bonner Ordinarius für Kunstgeschichte Carl Justi, der seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts sein Augenmerk auf El Greco richtete, allerdings nicht ohne dessen Arbeitsweise zu kritisieren. Eine regelrechte Greco-Manie brach erst mit dem Erscheinen des Buches „Spanische Reise“ des Kunstkritikers Julius Meier-Graefe im Jahr 1910 aus, in dem er, ein glühender Apologet der Kunst der Avantgarde, den Griechen als „richtigen, neuen, gewaltigen Erdteil“ entdeckte. 1911 publizierte August L. Mayer seine Greco-Monographie, gefolgt von Hugo Kehrers Greco-Buch von 1914. Im Jahr 1912 waren Bilder Grecos zunächst in der Münchner Pinakothek und anschließend in Düsseldorf zu sehen, und im selben Jahr hob Franz Marc im Almanach „Der Blaue Reiter“ hervor, daß die „Glorifikation dieses großen Meisters im engsten Zusammenhang mit dem Aufblühen unserer neuen Kunstideen steht. Cézanne und Greco sind Geistesverwandte über die trennenden Jahrhunderte hinweg. […] Beider Werke stehen heute am Eingang einer neuen Epoche der Malerei. Beide fühlten im Weltbilde die mystisch-innerliche Konstruktion, die das große Problem der heutigen Generation ist.“ Auf der damals zeittypischen Suche nach spiritueller Fundierung angesichts eines seelenlosen Materialismus und blanken Positivismus und im Nachdenken „Über das Geistige in Kunst“, wie der Titel der von Wassily Kandinsky 1912 publizierten Programmschrift der Moderne lautete, fand El Greco vor allem unter Künstlern des Expressionismus, die ihn zum Mystiker stilisierten, begeisterte Aufnahme. In ihm erkannten sie einen der Ahnherren ihrer eigenen künstlerischen Bestrebungen, und wie diese Bestrebungen konkret aussahen, zeigt die Düsseldorfer Ausstellung mit einer furiosen Auswahl hervorragender Meisterwerke der Klassischen Moderne vorwiegend aus den Jahren zwischen 1910 und 1920. Dabei erscheinen die formalen Korrespondenzen zwischen Greco und einigen modernen Künstlern oftmals unmittelbar evident, so etwa bei Lehmbrucks extrem gelängter Figur „Emporsteigender Jüngling“ von 1913-1914 (obwohl ungewiß ist, ob sich der Bildhauer unmittelbar mit dem Meister aus Toledo auseinandergesetzt hat), manchmal erschließen sie sich aber erst, nachdem man sich das erforderliche Hintergrundwissen aus dem exzellenten, von Beat Wismer und Michael Scholz-Hänsel herausgegebenen Katalogbuch besorgt hat – etwa im Fall von Ludwig Meidner, über den es heißt, er habe Weltuntergänge gemalt, „die noch in der Deformation über Greco hinausgingen.“

Wilhelm Lehmbruck, Emporsteigender
1913-1914 Foto Museum Kunstpalast
Eine Ausstellung mit 40 Bildern El Grecos aus allen Schaffensphasen – leider fehlen das „Gewitter über Toledo“ (um 1597-1588;) und der „Großinquistor“ (um 1600; beide Metropolitain Museum of Art, New York) – ist allein schon Grund genug für einen Besuch in Düsseldorf. Was die Düsseldorfer Schau aber so anregend, so lebendig und so erkenntnisfördernd macht, ist die Tatsache, daß hier im unmittelbaren Dialog der Bilder anschaulich jene vielgestaltigen Bezüge zwischen Greco und der Klassischen Moderne vorgeführt werden, die seit hundert Jahren zwar prinzipiell bekannt sind, die aber noch nie in dieser Deutlichkeit und Differenziertheit aufgearbeitet wurden.
 
El Greco und die Moderne
Stiftung Museum Kunstpalast - bis 12.08.2012
Ehrenhof 4-5 - 40479 Düsseldorf
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Katalogbuch „El Greco und die Moderne“, hrsg. v. Beat Wismer und Michael Scholz-Hänsel, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012, 416 S., ISBN 978-3-7757-3326-7, gebunden -  49,80 €; in der Ausstellung als Klappenbroschur 39,90 €.
 

Schon 100.000 Besucher kamen zu "El Greco und die Moderne"
 
Düsseldorf - Die Ausstellung "El Greco und die Moderne" im Düsseldorfer Museum Kunstpalast entwickelt sich immer mehr zu einem wahren Publikumsmagneten. Wie eine Sprecherin des Museums am Montag mitteilte, kamen seit der Eröffnung der Schau vor gut acht Wochen bereits 100.000 Besucher. Die Ausstellung zeigt erstmals in Deutschland mit 41 Meisterwerken eine umfassende Schau des vor knapp 400 Jahren in Toledo verstorbenen Malers. Dazu präsentiert sie rund 100 Werke von Künstlern der klassischen Moderne, die sich auf El Greco bezogen - von Cezanne über van Gogh bis Picasso, Beckmann, Kokoschka oder Macke. Die Ausstellung ist noch bis zum 12. August zu sehen. (ARe)
 
Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr und donnerstags von 11 bis 21 Uhr geöffnet.