…wie durch eine Cellophanhaut

André Pieyre de Mandiargues - „Der Rand“

von Jörg Aufenanger
…wie durch eine Cellophanhaut
 
   Die erotisch gefärbte Literatur besitzt in Frankreich eine lange Tradition, von den galanten Romanen des 18. Jahrhunderts über die Kurzromane Apollinaires bis zu denen eines Philipp Sollers heute. Auch die Erzählungen und Romane von André Pieyre de Mandiargues, geboren 1909 und 1991 verstorben, kann man dazu zählen. So auch den Roman „La Marge“, auf deutsch: „Der Rand“, mit dem der Autor 1967 den begehrtesten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt erhalten hat. Nun erst ist er auch in Deutschland erschienen.

 
Gewiß, nicht jeder Franzose ist ein Erotomane, Andrè Pieyrre de Mandiargues ist es jedenfalls gewesen, davon erzählen sowohl sein Leben als auch das Werk. So auch sein Roman „Der Rand“, der nach fünfundvierzig Jahren endlich in deutscher Übersetzung vorliegt.
Sigismond Pons ist nach Barcelona gereist, soll dort seinen Cousin als Propagandist für französische Liköre und Aperitifs vertreten. Mit dem Versprechen es wimmle in der Stadt von Mädchen, die für Abenteuer leicht zu haben seien, hat der Cousin ihn nach Barcelona gelockt.
Sigismond, ein Mann von vierundvierzig Jahren, ist mit der fünfzehn Jahre jüngeren Sergine verheiratet, die er abgöttisch liebt und mit der er einen Sohn hat. Stets ist er ihr treu gewesen, da sie für ihn auch die erotische Erfüllung darstellt, dennoch hat er nicht wenige Präservative in der Tasche. In Barcelona angekommen, erhofft er einen postlagernden Brief von Sergine vorzufinden. Doch er erhält ein Schreiben der Haushälterin Féline, öffnet es, liest nur den letzten Satz: „...Hat ihr Leben ausgehaucht“. Schnell verschließt er den Brief wieder und versteckt ihn im Hotel unter einer phallusartigen Flasche. Vor sich selbst. Gibt sich eine Frist von zwei bis drei Tagen, um ihn dann ganz zu lesen.
  Durch eine Sicherheit von mindestens vierundzwanzig Stunden ist sein Tun und Treiben garantiert. Seine Schritte unterliegen keinem anderen Gesetz als dem, ihn bis zum Ende des Aufschubs zu tragen, der im übrigen verlängert werden kann. Niemals, sagt er sich, bin ich derart Herr über mein Leben gewesen wie jetzt, niemals hat der Traum mir eine derart übermenschliche Freiheit gegeben. Er könnte sich für allmächtig halten, da für ihn während des zeitlichen Zwischenraums, den er auskosten wird, nichts von Bedeutung ist. Dann kommt er sich komisch vor. Er lächelt.

 
Heiter kostet Sigismond diese Freiheit aus, streift mit wachsender Neugier und Lust beschwingten Schritts durch die Gassen. Überall lauern die vom Cousin versprochenen Abenteuer. Da sich für einen Erotomanen die Lust vor allem im Auge austobt, erblickt er nicht allein in den Mädchen, in ihren Augen, den Schultern, Hüften, Fesseln Verlockung, selbst in vielen Objekten, die ihn in den Auslagen der Boutiquen und Märkte anschauen, vermutet er erotische Signale. Selten wurde eine Stadt derart als erotisches Terrain erzählt, wie von Mandiargues. Die Intensität seines Erzählens zieht nicht nur Sigismond sondern mit ihm auch den Leser durch die Gassen Barcelonas.
  „Ein Roman ist ein Spiegel, den man auf seinen Wegen mit sich führt“, sagt Stendhal, auf den sich Mandiargues mehrfach bezogen hat. Und so macht sich der Autor für seinen Roman nicht nur zum Betrachter und in Sigismond zum Objekt des Schreibens, sondern selbst zum Spiegel, in dem sowohl Wirklichkeit als auch Traum widerscheinen.
Der in Deutschland wenig bekannte Andrè Pieyre de Mandiargues hat 1943 mit den Erzählungen „Les années sordides“ debütiert, machte sich dann mit den Romanen „La Motocyclette“ und „La Marge“, - der „Rand“- in den 1960er Jahren einen Namen. Leichtfertig wird er oft als Surrealist abgestempelt, obwohl er sich von dem Surrealismus eines André Bréton, der den Traum als Motor des Schreibens gepredigt hat, entschieden ferngehalten hat. Im Gegensatz dazu verlangt Mandiargues von sich, und ausdrücklich auch vom Leser, vor allem eine Skepsis gegenüber den vertrauten Dingen. Wahre Welt und Traumwelt verschränken sich zu einer Sicht, die den Erscheinungen des Alltags mißtraut.

  Auch Sigismond verbringt die drei Tage von Barcelona zwischen Wachen und Traum, gerät dadurch immer mehr in den Sog einer Ungewißheit. Habe ich das wirklich gesehen, wirklich erlebt, fragt er sich wiederholt. Der Mann, der stets am Rand gelebt, sich als marginal empfunden hat, auch gegenüber den Frauen, die ihn durchs Leben führen und von denen er sich liebend gern verführen lässt, fühlt sich in den drei Barcelonatagen von einer Hülle umgeben. Die gibt ihm sowohl Schutz als auch die Möglichkeit, alles um ihn herum in sicherer Entfernung beobachten zu können. Aus dieser Hülle schaut er heraus wie durch eine Cellophanhaut, was seinem Blick eine wohlige Entfremdung erlaubt. Doch diese Blase, das weiß er, wird platzen, sobald er den Brief öffnet, wird ihn in ein Unglück stürzen, das jedes Maß zu übersteigen droht. Doch zuvor lebt er in jener Hülle mit einer Leichtigkeit ohnegleichen. Bei den Streifzügen durch die Gassen und Plätze, die Bars und Bordelle der Stadt fällt er schließlich Juanita, einem knabenhaften Mädchen, das seinen Träumen entsprungen zu sein scheint, in die Arme, verfällt ihr.
  Ihre Wangenknochen haben einen Glanz von überspültem Stein, ihre Stirn ist unter dem zerzausten Haarbüschel von kostbarem Schliff. Prachtvoll jung und auf dunkle Weise altertümlich. Anbetungswürdig... Juanita hat sich auf der geblümten Überdecke in der klassischen Pose der Herzogin von Alba ausgestreckt. Sigismond liebkost sie eher freundschaftlich als lasziv. Dieses Mädchen hat zwischen Brüsten und Hintern, sagt er sich, eine prachtvolle Taille. Er erinnert sich an die Taille, die bei Sergine zwischen den Brüsten und dem Hintern zum Vorschein kam, als sie sich vor fast sechs Jahren zum ersten Mal vor seinen Augen entkleidete, ohne ihm eine Berührung zu erlauben, bevor sie nackt war. Bin ich ein Ferkel fragt er sich. Dann denkt er nein, aber er ist eine Art altes Kind. Er schmiegt sich eng an die Nutte, wobei er mit einer traurigen Zuneigung an sich selbst denkt. Er betrachtet sich beim Vögeln. Er ist im Spiegel, als ob er allein wäre.

  In jedem Moment, den er mit Juanita verbringt, denkt er, selbst in dem des Akts, an Sergine. Sie ist die letzte Instanz in seinem Leben, überwachendes Auge und Zensor zugleich. Jamais deux sans trois! Aber niemals ohne sie. Ein erotisches Muster einer ab - und einer anwesenden Frau im Spiegel seiner selbst. Aber allein. Sigismonds auch narzisstische Manie, - und wir können wohl mit Recht vermuten es ist auch die Mandiargues - in jedem Augenblick, mit jedem Blick der Augen, eine erotische Verlockung zu sehen, erzählt der Autor mit Charme und einer gewissen Scham. Das führt bei der Lektüre zu einem Miterleben, als wäre Leser ganz nah dabei, als bewege er sich zusammen mit Sigismond durch Barcelona und die verlockenden Pfade der Stadt.
  So eine wundersame Präsenz vermag sowohl die psychologisch feinfühlige Zeichnung Sigismonds als auch der geschliffene Stil des Autors zu schaffen. Das macht den Roman „Der Rand“ zu einem raren Leseerlebnis zu einer Zeit, da der literarisch kunstvolle Stil des Schreibens nur noch von wenigen Autoren hochgehalten und beherrscht wird.
„Le Style c’est l’homme“ hat der französische Schriftsteller Buffon 1753 in seinem Diskurs über den Stil gemeint. Der Stil schafft also den Menschen. Umgekehrt aber auch. In Mandiargues gibt es noch den Menschen, der sich mit dem Stil vereint und so den Leser zu beglücken vermag.
 
 
André Pieyre de Mandiargues : „Der Rand“ - Aus dem Französischen von Rainer G.Schmidt
© 2012 Verlag Mathes & Seitz Berlin, 284 Seiten, 24,90  Euro 

Weitere Informationen:  www.matthes-seitz-berlin.de

 
 
© Jörg Aufenanger - Zuerst im WDR 3 gesendet am 30.7. 2012