Ateliergespräch mit Tony Cragg

...über Skulptur als Denkmal und sein Denkmal für Gerhard Domagk

von Johannes Vesper

Der Autor im Gespräch mit Tony Cragg - Foto: Marlies Meyer
Ateliergespräch mit Tony Cragg
über Skulptur als Denkmal

und
über sein Denkmal zur Erfindung der
Antibiotikadurch Gerhard Domagk
in Wuppertal
 
 
Zwischen London, Hannover und Shanghai, augenblicklich zu Hause in Wuppertal, befaßt mit Journalisten und Videoaufzeichnungen, findet Tony Cragg dann doch, wie verabredet, Zeit für unser Gespräch. Noch ist er beschäftigt, aber in seinem Atelier fällt das Warten leicht. Schnell ergibt sich ein Gespräch mit einem der Mitarbeiter. Tony Cragg arbeitet nicht alleine. Er verfügt über ein Schar von Helfern, die nach seinen Vorstellungen und Ideen Skulpturen tatsächlich „erarbeiten“ und in die Welt reisen, um die in Wuppertal entstehenden Skulpturen auf den Ausstellungen aufzubauen, zu positionieren und zu präsentieren. Allein in Shanghai werden derzeit 50 Skulpturen und 127 Zeichnungen ausgestellt.
 

Foto © Johannes Vesper

Beim Betreten des Raumes fällt der Blick auf das Regal mit Flaschen und Gefäßen, also den Urformen Craggscher Skulptur. An der großen, weißen, unübersichtlich sich windenden Skulptur  aus pflanzlich anmutenden Lianen und Keulen kann man kaum vorbei gehen, ohne diese zu berühren und zu beklopfen. Die weißen Schlangen sind hohl. Weiter hinten dann gedrehte rationale Wesen („rational beeings“), frühe Formen („early forms“), drei elegante Schichtholzskulpturen, eine davon in leuchtendem Rot, mit edel geschliffener Oberfläche und Stapel von Ausstellungskatalogen. Ein Weichholzschrank, in den zahllose Rundhaken gebohrt wurden, ist als Schrank nicht mehr zu gebrauchen, hat seine ursprüngliche Bestimmung als Möbelstück aufgegeben und die Metamorphose zur Skulptur hinter sich.
Beim Gang durch das helle Atelier fällt immer wieder der Blick durch die Fenster in das weite bergische Land. Das Atelier befindet sich in einer von Cragg für seine Zwecke umgebauten Panzergarage mit riesiger Glaswand nach Norden, Fenstern nach Süden und holzverkleideter Fassade. Hier könnte auch ein mittelständisches Unternehmen zu Hause sein. Was draußen auf dem umgebenden Gelände an skulpturalen Objekten herumliegt, dort einer Verwendung harrt bzw. bereits verwendet und abgelegt wurde, das ist eine eigene Betrachtung wert.  
Schließlich öffnet sich die Tür, Tony Cragg kommt herausgelaufen, nimmt sogleich das Gespräch auf und bittet in seinen nicht kleinen Arbeitsraum, der die zahllosen Objekte und Kleinplastiken, die Tische voller Bücher aber kaum faßt. Sofort beginnt das Gespräch.

Welche Beziehung hat Tony Cragg zur Medizin?

Eroded Landscape, 1998 - Foto © Frank Becker
Natürlich haben seine Skulpturen Bezüge, kulturelle Bezüge, persönliche Bezüge, seltener Bezüge zur Medizin. Persönliche Bezüge zur Medizin bestehen aber durchaus. „I am alive“, jene bewegte, glänzende Skulptur vor dem Opernhaus in Barmen entstand zu einer Zeit, in der nach einer längeren Leidensgeschichte endlich die Diagnose einer Zöliakie (Sprue) gestellt wurde und ihm durch Umstellung der Kost auf gliadinfreie Nahrung gut geholfen werden konnte. Damals rief er Freunde und Bekannte an und stellte fest, daß er immer wieder sagte: „I am alive. I am alive“. So wurde die Skulptur Sinnbild der Genesung. In seinem Arbeitsraum sah ich eine Holzkugel von ca. 30 cm Durchmesser mit zahlreichen, senkrecht eingeschraubten Ring- und Rundhaken und assoziierte sofort bestimmte Viren mit ihren Kapsiden. Vergleichbar stachelig in der Oberfläche ist die Holzkomposition „Angel and other Antibodies“ (1992). „Clear Microbe“ von 1992, „stomach“ von 1986, „Milz“ und „wooden muscle“ von 1985, „Wirbelsäule“ (1996) sind weitere Werke, die von ihrem Titel her medizinischen Bezug haben. Jetzt wird Tony Cragg eine weitere Skulptur mit Bezug zur Medizin schaffen. Die Medizinisch-Naturwissenschaftliche Gesellschaft Wuppertal hatte vorgeschlagen, an die Entdeckung von Prontosil, an die Entwicklung der Antibiotika für die Welt, die von Wuppertal ausgegangen ist, mit einem Denkmal zu erinnern.    
 
Hat Tony Cragg jemals ein Denkmal geschaffen?
Das Denkmal sei vorzeiten Symbol der Herrschaft, der Mächtigen gewesen oder Erinnerung an Menschen, die etwas Großes geschaffen haben: Friedrich der Große Unter den Linden, all die Bismarck-Skulpturen in Deutschland aber eben auch Skulpturen von großen Ärzten und Wissenschaftlern wie z.B. Robert Koch und Rudolf Virchow in der Charité. Nein so ein Denkmal hat er bisher nicht geschaffen. Seine Skulpturen sind Denkmäler vor allem seiner eigenen Originalität, seines Eigensinns, seiner Gedanken, sind keine Kopie der Natur. Seine Skulpturen wollen etwas Unsichtbares zeigen, etwas, was hinter der Oberfläche diese formt und prägt. Bei einer Reihe von Skulpturen ermöglicht er dem Betrachter sogar den Blick hinter die Oberfläche in das Innere der Skulptur und löchert diese (27.000 mal bei „Zufuhr“ in Wuppertal). Seine Skulpturen sind Ausdruck von bronzenen, hölzernen steinernen Gedanken, sind Übertragungen derselben, sind nicht-sprachliche Metaphern in hartem Material. Tony Cragg denkt mit Material. Aber: „Ich verwende keine Symbole“ sagt er.  
 
Einerseits Symmetrie und andererseits die Sicht aus verschiedenen Blickrichtungen sind wesentliche Elemente für den formalen Aufbau seiner teilweise sehr komplexen Skulpturen. Kein Zufall, daß schon vor Jahren eine Skulptur den Titel „points of view“ trug.  
Dabei hat er vor Jahrzehnten mit dem Stapeln von Holz oder Backsteinen begonnen. Dann wird der Bildhauer in ihm lebendig und er zerschlägt Backsteine, deren Staub und Fragmente er auf dem  Boden aufhäuft und verstreut. So entsteht aus den Backsteinen eine erdfarbige Bodenplastik

Blaue Flasche, 1982, Von der Heydt-Museum
...mittlerweile gestohlen - Foto © Frank Becker
(crushed rubble 1977), ein Schlüsselwerk der frühen Jahre. Und auf die blaue Flasche, von deren skulpturalen Qualitäten Tony Cragg fasziniert ist, lenkt er den Blick, indem er mit Fragmenten unterschiedlichster Art aber gleicher blauer Farbe die Form der Flasche erheblich vergrößert nachbildet („Blaue Flasche“ (1982) im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal). Die blaue Originalflasche war bis vor kurzem daneben sichtbar und machte mit Humor die andere Sichtweise der Dinge deutlich. Sie wurde Mitte Juli 2012 gestohlen
Das Stapeln wurde weiter entwickelt: Porzellan wird gestapelt (Crockery stacks 1996), Flaschen und Gläser, sandgestrahlt oder klar (Larder 1999, Pacific 1998), Holzplatten werden zu Schichtholzskulpturen gestapelt (wooden crystal 2000) und den early beeings sieht man nicht mehr an, was unter den metallenen Oberfläche im Inneren der Skulptur die Form gibt. Dies nur als Hinweis auf das riesige Werk Tony Craggs.

 
Und welch eine Fülle, welch ein Gebirge von Gedanken und Ideen wird im Gespräch aufgetürmt. Viele Aspekte der Naturwissenschaft und der Kunst werden ausgebreitet. Die Naturwissenschaft sei das größte Beobachtungssystem, über das wir verfügen. Der Künstler arbeite ohne Worte, ohne Mikroskop, aber mit seinem Material am Verständnis der Welt. Der Bildhauer sei mit seinem Material im Dialog, verändere es und werde auch selbst verändert. Cragg mag die Welt nicht so wie sie ist. Sie muß verändert werden. Dieser Bildhauer ist Philosoph.



 

Foto © Johannes Vesper

Absichtslosigkeit, reflektierendes Denken und Intuition charakterisieren den Menschen, meint Cragg, und sie unterscheiden ihn von den seit vielen Millionen Jahren in der Evolution überaus erfolgreichen Ameisen. Materieller Konsum und über alles herrschende Ökonomie seien unwürdige Antworten auf die menschliche Existenz. Wachstum und Gewinnoptimierung als Prinzipien führen nicht weiter, sondern zu ökologischen und ökonomischen Katastrophen. Und:   
„Das Zentrum der künstlerischen Arbeit ist die Neugestaltung von Rohstoffen zu Formen und Bildern, die als komplexe Zeichen neue Erfahrung, neue Einsicht und neue Freiräume erschließen“ (Tony Cragg 2002, Signs of Life S. 163). Bildhauer und naturwissenschaftlicher Arzt haben Parallelitäten; denn mit seinen Gedanken und seiner Bildersprache ist der Bildhauer Cragg dem Naturwissenschaftler vergleichbar, der als freier Wissenschaftler im Labor mit Intuition und „Eigensinn“, mit Originalität im reflektierendem Denken seine Hypothesen aufstellt, ihrer Realität experimentell nachspürt und zu neuem Verständnis, zu neuer Erfahrung der Natur kommt. Das
passierte bei BAYER in Wuppertal vor 80 Jahren, als in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts der Pathologe Gerhard Domagk, gefördert vom Chemiker und Werksleiter Höhrlein, erstmalig die Wirkung von Prontosil erkannte und damit die Entwicklung der Antibiotika für die Welt anstieß. Das geschah in Elberfeld. Prontosil war damals das erste Medikament, mit dem die lebensbedrohlichen Streptokokken wirksam bekämpft werden konnten. Gerhard Domagk erhielt dafür den Nobelpreis. Man darf auf das Denkmal Tony Craggs gespannt sein. Einen Entwurf gibt es schon (siehe „Gerhard-Domagk-Skulptur von Tony Cragg für Wuppertal“ (www.musenblaetter.de/artikel10562). Bildhauerische Poesie für eine naturwissenschaftliche Großtat kann erwartet werden.
 
Johannes Vesper
 
(Der Text beruht auf einem Gespräch mit Tony Cragg am 19.09.12 in seinem Atelier und auf Texten von ihm, publiziert in „Signs of Life“ (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn vom 23.05.-05.10.2003, Richter Verlag) und Tony Cragg „Matrix“ kestnergesellschaft Verlag für Moderne Kunst (zur Ausstellung in Hannover vom 14.09.-04.11.2012)
 
Weitere Informationen: musenblaetter.de/Cragg   und  www.tony-cragg.com

Redaktion: Frank Becker