Ein Brief aus London

von Georg Christoph Lichtenberg
An Johann Christian Dieterich        London, den 19. April 1770
 
 
Liebster Herr Gevatter!
 
Für Ihr Gutsagen bin ich Ihnen unendlich verbunden, als einem Freunde in der Not, deren ich noch  sehr wenige gehabt habe. Ich hoffe bald wieder zurück zu sein, weil ich meine Rechnung nicht so finde, wie ich glaubte, ohnerachtet ich so recht lebe, was ein darmstädtischer Oberförster glückselig nennen würde, und ich wünschte jeden fetten, ehrlichen Mann, der auf Essen und Trinken reist, an meine Stelle. Mit einem Wort, ich lebe (wider meinen Willen, das ist das schlimmste) recht kurfürstlich und bin überzeugt, wenn ich einen Sommer so fortlebte, so könnte mein Geschmack vielleicht überstimmt werden und in eine ewige Dissonanz mit meinem Beutel geraten. Der Engländer speist simpel! sagt man, das ist wahr, man findet wenige zusammengesetzte Gerichte, aber der einfachen Dinge sind bei ihnen eine solche Menge, daß es Torheit sein würde, zusammenzusetzen. In ihren Weinen sind sie unerschöpflich. Man ißt erstlich zu Mittag, und dann wird zu Mittag getrunken, zwei ganz verschiedene Dinge. Bei dem letztern sind keine Frauenzimmer mehr, dieses aus allerlei Ursachen, erstlich, damit sie die Staatsgeheimnisse der Männer nicht entwenden, und zweitens, damit ihnen keine Geheimnisse entwendet werden. Beim Tee kommt man wieder zusammen, dieses dauert nicht lange, und jede Partei hält ihre Geheimnisse diese kurze Zeit über so gut, als sie kann. Des Abends, oder deutsch des Nachts, geht es nicht besser, mit Essen und Trinken meine ich, denn mit den Geheimnissen geht es ganz ausgemacht schlimmer. Oh, das ist erbärmlich, da ist an kein Teetrinken zu denken.
In London ist alles feil, was man in andern Ländern gar nicht ums Geld bekommen kann, und was man ganz umsonst hat, alles durcheinander zu allen  Stunden des Tages in allen Straßen, auf allerlei Art zubereitet, gekleidet, gebunden, gefaßt, gepackt, ungebunden, geschminkt, eingemacht, roh, parfümiert, in Seide und in Wolle, mit oder ohne Zucker; kurz, was der Mensch hier nicht haben kann, wenn er Geld hat, das suche er beim Urgroßvater seliger in dieser greifbaren Welt nicht, wahrlich nicht . . . Ich schreibe sonst nicht gern von Frauenzimmern, und fast niemals tue ich es, es müßte denn das Frauenzimmer, von dem, oder der Mann, an den ich schreibe, etwas Außerordentliches sein. Nun befinde ich mich in einem Falle, wo beides zutrifft, und deshalb will ich mich einmal recht müde vom Frauenzimmer schreiben. Sobald man den Fuß in England setzt (ich setze aber voraus, daß man noch etwas mehr hat als Füße), so fällt dem Studenten sowohl als dem Philosophen und dem Buchhändler sogleich die außerordentliche Schönheit der Frauenzimmer und die Menge dieser Schönheiten in die Augen. Dieses nimmt mehr und mehr zu, je näher man London kommt. Wer sich von dieser Seite nicht recht sicher weiß, für den weiß ich nur ein einziges Mittel. Er gehe sogleich mit dem nächsten Paketboot nach Holland zurück, da ist er sicher.
Ich habe in meinem Leben sehr viele schöne Frauenzimmer gesehen, aber seitdem ich in England bin, habe ich deren mehrere gesehen, als in meinem ganzen übrigen Leben zusammengenommen, und doch bin ich in England nur erst zehn Tage. Ihr außerordentlich netter Anzug, der einer göttingischen Obstfrau einiges Gewicht geben könnte, erhebt sie noch mehr. Die Aufwärterin, die mir täglich Feuer in den Kamin macht und mein Bette wärmt (mit der Bettpfanne versteht sich, Gevatter), kommt zuweilen mit einem schwarzen, zuweilen mit einem weißen seidenen Hute und mit einer Art von Schlender in die Stube, trägt ihre Bettpfanne mit so vieler Grazie, als manche deutsche Damen den Parasol, kniet in diesem Anzuge mit einer Nonchalance vor dem Bette nieder, daß man glauben sollte, sie hätte vierzig solcher Schlender, und spricht dabei ein Englisch, wie es in Euren besten englischen Büchern kaum steht. Wenn Euer Herz etwas aushalten kann, so kommt herüber, ich stehe Euch dafür, Ihr sollt das Englische weghaben, ehe Euch das Bette 40mal ist gewärmt worden. Von solchen Kreaturen wimmeln alle Straßen; die schönsten sind die Putzkrämerinnen, und eine solche war es, die den Lord B. 120 000 Taler gekostet hat.
Von vornehmen Frauenzimmern habe ich über 200 in einem einzigen Saale im Hause des Lords gesehen, wovon eine jede dem Lord B. wenigstens 150 000 Taler wert gewesen wäre, das macht schon 30 Millionen Taler die bloßen Frauenzimmer, wie Gott sie erschaffen hat, ohne ein Körnchen von Diamanten und Spitzen und Perlen u. dgl. in Anschlag zu bringen. Das ist ein Kapital! . . .
Nun bin ich doch auch wirklich müde, von den Engländerinnen zu schreiben. Unterdessen verbitte ich, diese Nachricht vom englischen Frauenzimmer in den Gothaischen Kalender einzurücken, nicht meinetwegen, sondern des deutschen Frauenzimmers wegen. Die Damen von Lima kann man ihnen loben, solange man will, allein das englische Frauenzimmer ist ihnen etwas zu nahe. Man liest in der Geschichte, daß die Niedersachsen schon einmal haufenweise nach England marschiert sind, und man gibt sehr tiefsinnige politische Ursachen als den Grund davon an, allein man hat dieses gar nicht nötig. Die guten Sachsen liefen von ihren Weibern weg. Also ja kein Wort von meiner Beschreibung in den Kalender.
Verzeihen Sie mir die vielen Possen, die ich in diesem Brief zusammengeschrieben habe. Wenn ich die Freude haben werde, Sie wiederzusehen, so sollen Sie Besseres hören. 
 
Ihr treuer Freund
G.C. Lichtenberg