Fehlende Präsenz

Ein Klagelied

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker

Erwin Grosche bekommt heute als erster Preisträger den
"Nieheimer Schuhu. Peter-Hille-Literaturpreis"

Die Musenblätter gratulieren!


Fehlende Präsenz


Ich habe so eine fehlende Präsenz
   Gestern hat mir ein Echo nicht geantwortet, dabei habe ich nur gefragt: »Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?«, aber meinen Sie, da wäre was zurückgekommen? Als wäre sich das Echo inzwi­schen zu schade für solche Eseleien, als wären die Zeiten inzwi­schen zu ernst, um sich an die Oberflächlichkeiten der Spaßkultur zu hängen. Ich meine, ich weiß schon, dass der Bürgermeister von Wesel nicht Doktor Albert Esel heißt, aber ich werde weiterhin dem bekanntesten deutschen Bürgermeister meine Aufwartung machen und nach seinem Namen fragen, ob es dem Echo nun passt oder nicht. Wir sind hier doch nicht beim Einwohnermelde­amt, sondern im logisch freien Raum zwischen Berg und Tal. Was soll's, ich werde bestimmt kein Echo anschreien, es fällt ja sowieso auf mich zurück.

Habe ich auch meinem Arzt gesagt: »Jetzt fühl ich mich schon so nicht anwesend und habe dazu so wenig Geld, und dann will hier keiner, dass ich mich ausziehe«, da hat er gesagt: »Der Nächs­te bitte!« Und ich dachte, das ist doch genau wie in diesem Witz, über den alle lachen, außer ich erzähle ihn.
»Als Mensch keine Schönheit, als Schwein zu kleine Ohren.«
   Gestern stand ich stundenlang vor einer automatischen Glas­schiebetür und trat dauernd auf den Boden, aber meinen Sie, die wäre aufgegangen? Zum Glück bekam ich irgendwann heraus, das war gar keine automatische Glasschiebetür, das war noch nicht mal eine Schiebetür, sondern nur das Schaufenster eines Hutge­schäfts, und ich wunderte mich schon, dass dahinter so viele Hüte hingen, die mir nicht gefielen. Ist denn eine ganze Epoche der Hutmode an mir vorübergegangen oder will keiner mehr, dass ich schön aussehe? Jetzt, wo ich endlich den Kopf habe, um einen Hut tragen zu können, sehen alle Hüte aus, als müsste ein starker Wind sein, wenn man sie aufsetzt.

  Inzwischen habe ich immer mehr Stellen am Körper, zu denen ich selbst nicht mehr hingelange. Es gibt Hinweise auf Stellen an meinem Rücken, wo noch niemals jemand war. Es juckt und kein Weg führt dorthin. Zwischen Schulterblatt und Schulterblatt ent­steht eine unberührte Landschaft, ein Biotop, wo man andere braucht, die dort gucken und jucken. Übrigens ist das der Beweis dafür, dass der Mensch nicht all eine leben darf, außer er hat einen Baum in der Nähe, einen Kratzbaum. Inzwischen habe ich sogar immer mehr Stellen am Körper, die ich selbst nie sehen werde. Aber andererseits, wer will im Ernst seinen Hintern sehen? Es reicht doch, wenn man morgens seinen Chef sieht und ihn grüßen muss. Wer will denn im Ernst seinen eigenen Hintern sehen? Es reicht doch, wenn man ihn putzt und duscht und ihm nicht böse ist, dass er sich überall so breit macht, dass er zwischen alle Stühle passt und dort nur rumpupst.

Für meine Frau bin ich Luft, mein Chef hat mich an dieselbe ge­setzt, weil er mich nie bei der Arbeit gesehen hat, dabei saß er auf mir. Mein Nachbar grüßt mich nicht, dabei hatte ich mal was mit seiner Frau, Frau Schlawinsky Da geht man mal andere Wege und dann passiert so was.
Manchmal glaube ich, Gott weiß gar nicht, dass es mich gibt. Aber gibt es Gott? Er soll bloß aufpassen, wem er seine Zeit opfert, sonst glaube ich nicht mehr an ihn. Gott treibt sich nur noch in Kirchen rum, als hätte er längst klein beigegeben, als hätten wir längst etwas gemeinsam: fehlende Präsenz!
Klar, man soll sich nicht zu wichtig nehmen, aber heute habe ich mich im Spiegel nicht sehen können. Erst später ist mir aufgefal­len, da hängt gar keiner. Ich hatte den Streit mit meiner Frau ver­gessen. Sie hatte versucht mich mit einem Hammer zu erschlagen und dabei den Spiegel zertrümmert. Ich sag' s ja, Scherben bringen Glück.
»Dich trifft auch nichts«, hat sie gesagt. »Dich trifft auch nichts. Nie bist du da, wenn man dich braucht.

Wo bin ich denn, wenn man mich braucht? Ich muss doch ir­gendwo zu treffen sein. Ich will Ihnen sagen, wo ich bin, wenn man mich braucht, ich einsamer Held in der Warteschleife.
  Ich stehe in der Schlange vor der Käsetheke und wenn ich dran bin, ist mein Käse nicht mehr da.
  Ich stehe im falschen Stau auf der falschen Autobahn und er­fahre das erst durch das Radio, wie peinlich.
  Ich verzweifle im Parkhaus vor der sich nicht öffnenden Schran­ke und meine Frau will nicht aussteigen, weil ich zu stolz dazu bin.
  Ich knie vor dem Passbildautomaten und warte auf mein Bild, das nicht herauskommt, und wenn es endlich herauskommt, sieht es mir nicht mehr ähnlich, weil zu viel Zeit dazwischen vergangen ist.
  Ich sitze vor dem Fernseher und schaue mir Filme an, die mir nicht gefallen, und dann schalte ich um und schaue mir Filme an, die mir nicht gefallen. Inzwischen habe ich sogar Lieblingsfilme, die mir nicht gefallen.
  Ich liege im Bett neben einer Frau, die mich nicht mehr liebt und von einem anderen träumt.
Meine Frau hat mit mir mal einen Urlaub verlebt, da war ich gar nicht dabei. Ich las nur später auf der Hotelrechnung, dass ich dort mit ihr in einem Doppelbett übernachtet habe und wir noch die Getränke aus der Minibar bezahlen müssen. Das Hotel schickte mir dann auch einen Pullover, den ich vergessen hatte. Der war mir viel zu groß und auf ihm stand »Günther« gestickt, und ich heiße doch nicht »Günther«. Also, lieber eine fehlende Präsenz, als Günther heißen.

Heute habe ich ein selbstgemaltes Strafmandat hinter meinem Scheibenwischer entdeckt. Es ist seit langem das erste Mal, dass mich einer wahrgenommen hat. Es geht aufwärts. Herr Schla­winski hat mich zwar heute wieder nicht gegrüßt, ist aber auch nicht mehr vor mir fortgelaufen, als er mich den Berg hinaufkom­men gesehen hat. Es geht wieder aufwärts. Heute wollte ich mit dem Aufzug vom dritten Stock in das Erdgeschoss fahren, und es hat geklappt, O. K, der Aufzug hat vorher erst noch im fünften Stock und dann im vierten gehalten, bis er sich herabgelassen hat, in das Erdgeschoss zu sausen, aber es geht aufwärts. Ich weiß jetzt auch, dass im vierten und fünften Stock schönere Bilder hängen als im dritten. Wie muss es erst im sechsten Stock aussehen?
Jetzt habe ich einen CDU-Kugelschreiber geschenkt bekom­men, und was soll ich Ihnen sagen, er schreibt. Man kann sogar so komische Sätze mit ihm schreiben wie: Merz ist ein Scherz, Mer­kel ein Ferkel, Stoiber ein Räuber, er schreibt's fehlerfrei, ich hab's probiert. Soviel Selbstironie hätte ich der CDU gar nicht zuge­traut; okay, über Niveau kann man streiten, aber es geht aufwärts.

Vielleicht muss man nur die richtigen Fragen stellen, um die richtigen Antworten zu bekommen. Immer wieder laut die richti­gen Fragen stellen, um endlich laut die richtigen Antworten zu bekommen: »Wie heißt der Bürgermeister von WeseI?«
»ESEL!«


© Erwin Grosche