Abende von Berlin – Am Wannsee

Ein Hauptstadtfeuilleton

von Jörg Aufenanger

Jörg Aufenanger - Foto © Frank Becker
Am Wannsee
 
Lange bin ich nicht mehr hier gewesen, vor elf Jahren wohl zum letzten Mal. Alles ist ein wenig anders heute, doch die Geschichte ist dieselbe.
Kurz vor zwölf Uhr treffe ich ein, wie damals. Ich klingle und das schwere Eisentor öffnet sich wie von unsichtbarer Hand. Ich gehe den Weg auf die Villa zu, damals auf Kies heute auf Pflaster und ich höre mich gehen auf Kies, obwohl ich keine schweren Stiefel trage, wie manche von ihnen damals. Gleich muß ich mich entscheiden. Gehe ich rechts um das bepflanzte Rondell oder linksherum, um zur Haustür zu gelangen? Beiderseits des Wegs standen einst mit grüner Plastikfolie verhüllte und mit Stricken gefesselte Statuen. Es ist Winter, heute auch, doch die übrig gebliebenen Figuren sind hüllenlos nun. Ich gehe links herum, Eisplatten damals, Tauwasser, heute kein Eis, kein Schnee. Im entfernteren Damals vor 72 Jahren lag Schnee. Ich schelle erneut, die Tür der Villa Marlier öffnet sich mir sofort. Ich verharre im Eingang, denn es schwindelt mich, da drei Zeiten sich überlagern: 1942, 2002, 2013.

20. Januar 1942, wenige Minuten vor Zwölf, da trafen sie hier ein, betraten durch die Tür die Villa. Nun gehe auch ich ins Haus und weiß doch, der ich denselben Weg bis hierhin gegangen bin, der ich den Ort aufsuche, an dem sie gesessen haben, nichts wird mir erklären, nichts wird mich je verstehen lassen, kein Ortstermin.
„Da die zur Erörterung stehenden Fragen keinen längeren Aufschub zulassen, lade ich Sie daher ein zu einer Besprechung mit anschließendem Frühstück“ hatte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Heydrich aus Prag Anfang Januar 1942 an ausgewählte Ministerialbeamte und SS-Führer geschrieben. Fünf Monate später sollte Reinhard Tristan Heydrich tot sein, gestorben nach einem Attentat, das tschechische Widerstandskämpfer auf in verüben werden.
Wiederholt habe ich den Ort aufgesucht, an dem die vierzehn Personen mit Heydrich gesessen haben und über die „Endlösung der europäischen Judenfrage“ beraten haben. Ich gehe nach rechts, betrete einen lichten länglichen Raum, an dessen Ende eine Art Erker zum Park weist. Ich schaue nach links auf den See hinüber zum Strandbad Wannsee, an dessen Eingang eine Tafel daran erinnert, daß der Leiter des Bads, Hermann Cajus, sich im März 1933 das Leben genommen hat, da er erfahren hatte, daß er von den neuen Machthabern entlassen werden sollte.

Ich drehe mich um und schaue in ihre Gesichter. Viele Augenpaare schauen mich an. Aber sehe ich etwas? Und was sehe ich, wenn ich etwas sehe? Was man anschaut, schaut einen irgendwann an. Und sie schauen weder besonders diabolisch, gefährlich, verschlagen, nur Heydrich und Eichmann ziehen auf diesen Photos die Augen zu schmalen Strichen zusammen, wohinter man etwas vermuten könnte. Doch die Physiognomie dieser Männer verrät nichts, sie sehen aus wie andere Männer jener Zeit. Ich schaue auf die Geburtsjahre, sehe, die meisten waren eher noch jung, hatten die Jugend aber hinter sich, waren meist Mitte, Ende Dreißig, Anfang 40. Viele haben studiert, promoviert, vor allem jene, die in den Ministerien tätig sind. Sie stehen auf den mittleren Stufen der Karriereleiter im NS-Staat. Nur Heydrich ist schon oben angekommen, er stammt aus einer Musikerfamilie, der Vater war Komponist, daher der zweite Vornamen Tristan für den Sohn, der selbst Geige gespielt, Komposition studiert hat, aber Goebbels hat mit „Michael“ auch einen Roman geschrieben. Was schützt davor, ein Massenmörder zu werden?
Eine junge, gebildete Elite traf sich am Wannsee an jenem Dienstag vor 73 Jahren. Bevor man berät, plaudert man, steht herum, schaut auf den See. Danach berät man, nachdem Heydrich, der alles penibel vorbereitet hat, in einem langen Vortrag es vorgibt, das unfaßbarste, schauerlichte Dokument, das es geben kann, in dem beschlossen werden soll, sämtliche Juden in Europa, elf Millionen, die tabellarisch aufgelistet sind, zu vernichten. Man braucht für die Beratung nur knappe neunzig Minuten. Danach ist man aufgeräumter Stimmung, plaudert wieder, ißt, trinkt Cognac, den es reichlich gibt, in diesem Haus, das seit einigen Jahren Gästehaus des SD ist. Man steht noch eine Weile zusammen. Dann geht man den Weg, den man gekommen war, zurück, ein jeder seines Wegs, in die Ministerien, in die Büros, nach Hause. Alltag ist aller Tag.
„Das Morden brachte die Idee des Genozids hervor, wie auch umgekehrt die Idee des Genozids das Morden“, schreibt Marc Roseman in seinem Buch „Die Wannseekonferenz“, dessen englischer Titel lautet: „The Villa, the lake, the Meeting.“

Die Vernichtung der Juden Europas ist hier in der Villa nicht wirklich beschlossen worden, sie war schon zuvor von Hitler gedacht und auf den Weg gebracht worden, und, so schreibt Roseman weiter, in den von Deutschen besetzten Gebieten war sie furchtbarer Alltag. Überall waren mittlere und kleine Beamte sowie SS-Führer dabei, Juden zu deportieren, zu erschießen, auszumerzen, und so hätte es dieser Zusammenkunft kaum bedurft, um den Genozid durchzuführen. Er fand schon statt. Und so wußten manche Teilnehmer Konferenz gar nicht so recht, warum sie gekommen waren. Dieses Dokument, das auf Initiative des selbstgefälligen, profilsüchtigen Heydrich zu Stande gekommen ist, ist nur das Schwarz-Weiße auf einem Blatt Papier, das bestätigt, was schon in Gange ist, es fügt nur noch den Gedanken eines völlig durchorganisierten Genozids hinzu. Entscheidungen konnten die Männer, die auf Einladung Heydrichs gekommen waren, gar nicht treffen, dazu waren sie zu untergeordnet im Apparat des Staats und der SS. Sie sagten „nur“ Ja, und sie sagten gern „Ja“.
Und sie wußten genau, wozu sie „Ja“ sagten.
Warum versuche ich immer wieder, auch hier am See, zu verstehen, was nicht zu verstehen ist? Vergeblicher Ortstermin. Auch nach vier Stunden in der Villa. Als sich langsam Dunkelheit über den See senkt, auf dem am Rande zerbrechliche Eisschollen treiben, nähere ich mich dem Ausgang, verlasse den Ort, gehe wieder über den Kies oder das Pflaster, ich weiß es nicht, öffne das Gartentor, bin draußen vor der Tür. Zuvor war ich noch einmal durch die Villa gegangen, die nun Gedenkstätte ist, die im ehemaligen Konferenzsaal die Täter zeigt, in anderen Räumen die Opfer ihrer Taten.
Ein Photo zeigt eine Gruppe von Frauen, die zu einem Appell in einem der vielen Lager angetreten sind. Sie tragen hellgraue Kittel und Kopftuch. Eine junge Frau in ihrer Mitte senkt den Kopf, hält eine Hand vor die Stirn. Denkt sie das Ende, den Tod? Das, was war in ihrem Leben? Das, was hätte sein können?

Mit dem Bild dieser Frau vor Augen, die womöglich vor etwa siebzig Jahren gestorben ist, gehe ich durch die Villenkolonie am Wannsee, die einst ein kosmopolitischer Ort war, an dem Menschen aller Religionen friedlich zusammenlebten. Da ist die Villa Oppenheim, in deren Anwesen bis zum Sommer 1942 die jüdische Gartenschule unter Leitung von Jizchak Schwersenz untergebracht war. Einige Schritte weiter liegt die Villa, in der der Maler Max Liebermann bis zu seinem Tod die Sommer verbrachte und deren Garten er unzählige Male gemalt hatte. Alles ist ruhig und beschaulich an diesem beginnenden Sonntagabend, dem 20. Januar 2013. Nichts stört die Ruhe. Nichts?
 
 

© 2013 Jörg Aufenanger