Ein neuer Stil

Satire

von Joachim Klinger

Joachim Klinger Foto © Nadja Murphy

Ein neuer Stil


Sie langweilen sich auch? Schrecklich diese Vernissage, stupide Reden, schlechte Bilder! Ich stehe kurz vor dem Absprung, bin diese Art von „Kunst“ und pseudo-wissenschaftlichen Einführungen leid. Dabei bin ich selbst Kunsthistoriker, und Philosoph. Also auch immer in der Versuchung, Unsinn zu schwätzen ...

OK, ich gehe noch auf ein Bier in den „Irish Pub“ direkt gegenüber. Nett, dass Sie mich begleiten wollen!
Ah, die frische Luft tut gut!

Nehmen wir den Ecktisch? In Ordnung! Sie sind eingeladen. Wenn man zwei Bier haben will, braucht man nur zwei Finger zu heben. Na, sehen Sie, Prost!
Kennen Sie Frédéric Wals? Richtig, den Maler! Ich kenne ihn gut. Ja, ich darf mich seinen Freund nennen. Darauf bilde ich mir sogar etwas ein. Ein schwieriger Mann, dieser Wals! Gewiss, die meisten Künstler sind schwierig. Aber Wals ist ein Extremfall, querköpfig und hitzig, gleichzeitig empfindlich und eitel. Kein Wunder, dass es auch zwischen ihm und mir Spannungen gegeben hat, sogar Streit. Trotzdem, er hat Vertrauen zu mir. Er kann sich auf mich verlassen, das weiß er...

Sie meinen, man höre nichts mehr von ihm?

Ganz recht! Im Künstlerlexikon von Lotz - Sie kennen das Standardwerk, natürlich - genauer: in der Auflage von 1993, wird er als verstorben gemeldet. Geboren 1932 in Andernach, gestorben 1992 in Düsseldorf.
Erinnern Sie sich nicht an Nachrufe in Zeitungen? Ich habe sie gesammelt. Was für Würdi-gungen! „Wals ist von singulärer Bedeutung für die deutsche, ja, die europäische Kunstszene. Keiner Kunstrichtung verpflichtet, hat er ein Werk hinterlassen, das seinesgleichen sucht.“ usw., usw.
Und nun erschrecken Sie nicht! Halten Sie mich nicht für verrückt! Ich sage ganz kurz und unmissverständlich: Wals lebt! Ja, Sie haben richtig gehört: er lebt! Aber er ist fort, hat sich ins Ausland abgesetzt und seine Spuren verwischt.
Sie meinen, das sei eine Info für die Presse und eine Schlagzeile für Boulevardblätter. Nein, nein, jetzt nicht mehr.
Der Fall ist abgeschlossen. Und es trifft ja zu, dass es den Maler Wals nicht mehr gibt. Wenn den Menschen Wals - er hat übrigens seinen Künstlernamen abgelegt und heißt wieder Fritz Kowalski - wenn den Menschen Wals ein eifriger Reporter aufspürte, er wäre enttäuscht und wüsste nicht, was er berichten sollte. Ist man aus der Welt der großen Kunst abgetaucht in die Alltäglichkeit, dann lohnt das für die Medien nicht. Es ist nicht tragisch, nicht komisch, es ist einfach banal.

Wollen Sie trotzdem die Geschichte einer Wandlung hören? Also kein dramatischer Absturz - Sie haben schon verstanden.
Frédéric Wals wird mit vollem Recht als Maler hoch geschätzt. Seine großen Stadtlandschaften sagen mehr über die gesellschaftlichen Zustände im 20. Jahrhundert aus, als dies ein Werk der Literatur vermöchte. Sehen wir einmal von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ ab.
Was mich immer stark beeindruckt hat, das ist die Beschwörung einer metaphysischen Stille inmitten eines vom Menschen verursachten Chaos. Sein Triptychon „Sodom - Gomorra - Berlin“ wurde bereits 1965 von der Staatsgalerie erworben. Gewiss, er hat auch Stillleben gemalt, einige Porträts, grafische Zyklen geschaffen, denken Sie beispielsweise an „Auf-stand, Aufruhr, Niederlage“, aber eigentlich hat ihn die Stadt-Thematik nie losgelassen. Gewaltige Gestaltungskräfte hat sie geweckt, gigantische Bilder sind entstanden.

Jedoch, und auch das muss gesagt werden, verloren seine Bilder in den letzten Jahren an Dynamik. Die Farbgebung wurde dunkler, die Szenerie karger, der Bildaufbau strenger. Eine monotone Düsternis stellte sich ein, abweisend, bedrohlich. Ein bekannter Kunstkritiker schrieb über die Ausstellung letzter Bilder: „Die bleierne Zeit ist bei Wals ungebrochen.“
Diese Bilder ließen sich nicht gut verkaufen. Wer holt schon die Trostlosigkeit in sein trautes Heim?!
Wals selbst wirkte trübsinnig. Kam ich in sein Atelier, konnte ich keine neuen Arbeiten entdecken. Nicht einmal Versuche, Skizzen, Entwürfe. Ich riet zum Zeichnen. Das lenkt ab, geht schnell, führt zu einer lockeren Haltung, macht neugierig auf Entwicklungsstufen. Wals setzte seine sture Maske auf. Es war nichts zu machen. Seine Frau verdiente mit der Anfertigung von Schmuck mehr als er mit Bildern.

Eines Tages rief mich Wals an und bat um meinen Besuch. Auf seiner Staffelei stand ein merkwürdiges Bild, relativ klein, bunte Papierfetzen zusammengeklebt, ein breiter Pinselstrich am rechten Rand.
„Sieh dir das genau an!“ sagte Wals mit versteinertem Gesicht.
Die Papierfetzen schienen mir aus einer Aquarellarbeit zu stammen, die zerstört worden war. Man erkannte hier und da Linien, Strukturen, die einen Zusammenhang erahnen ließen. Vielleicht eine Baumlandschaft. Das Ganze wirkte auf mich stümperhaft und befremdlich.
„Na?“ fragte Wals mit grollendem Unterton!
Ich bin erfahren im Umgang mit Künstlern. Dieses Lauern auf die erste Reaktion! Ich fürchtete einen Wutausbruch und sagte ziemlich lahm: „Ungewöhnlich! So kenne ich dich nicht. Lass mir ein bisschen Zeit, ich muss mich damit auseinandersetzen.“
Wals lachte laut und höhnisch.
„Mein Enkel hat das Aquarell, das ich unter den Tisch geworfen hatte, in viele kleine Schnipsel zerrissen und dann auf Pappe geklebt. Das ist nicht von mir, es ist die Spielerei eines Kindes! Meine Schwiegertochter, die alles bewundert, was der Kleine produziert, stellt das Kunstwerk auf die Staffelei und ist ganz verzückt, da kommt Kohlhaas herein. Weiß der Himmel, wieso der hereinschneit! Sieht das Bild und stellt denselben verzückten Gesichtsausdruck zur Schau. „Luzide“, sagt er „luzide, vibrierend, aufregend. Mensch, Wals, das ist was, das ist ein neuer Stil! Pointillismus, Holografie, Film, Video, Fernsehen - alles zu einer Einheit verschmolzen. Neue Qualität, neuer Stil!“ sagt dieser Kritiker-Star.

Wie es der Zufall will - also ich glaube nicht an Zufälle! - klopft eine Stunde später Leisendonk an die Tür, schüttelt mir die Hand mit dem harmlosesten Gesicht der Welt und fragt, wie es geht, was ich treibe. Ich entgegne betont fröhlich: Prächtig, prächtig, mein Alter! Und wie läuft die Galerie? Hast du mal wieder einen Wals verkloppt?
Er ist auf einmal völlig geistesabwesend, starrt in Richtung Staffelei, gibt einen Laut von sich wie unser Meerschweinchen, wenn es einen Leckerbissen bekommt, stürzt sich auf das Bild, betrachtet es aus der Nähe, tritt mehrere Schritte zurück, breitet die Arme aus, faltet dann die Hände und fragt mich flüsternd: „Was ist das?“
Eine Spielerei sage ich unwirsch, nichts als eine Spielerei.
„Eine Spielerei?“ ruft er und zerrt an seinem Zopf, „eine göttliche Spielerei. Das ist ein Wurf, einzigartig, grandios! Damit begründest du einen neuen Stil. Licht, Leichtigkeit und doch auch Leidenschaft. Ich bringe dich damit wieder einmal groß heraus.“
Ich wehre ab, gieße mir einen Whisky ein und knipse die Deckenleuchte aus. Schließlich rauscht er davon.

"Nun sitze ich da mit dem Bild meines Enkels, diesem plumpen Machwerk, und weiß nicht, was ich tun soll.“
Wenn du es als eine Entdeckung begreifen kannst, die dir Anregung und Auftrieb gibt, beginne ich vorsichtig, dann mag es sich lohnen, eine neue Linie zu entwickeln. Dann kommt es möglicherweise zu einem Stilwandel, dann beginnt eine neue Epoche...
„Aber ich kann nichts damit anfangen“, brüllt er, „das ist nicht von mir! So etwas machen, ginge mir contre cœur! Ich würde die Leute täuschen.“
Die Welt will betrogen sein, sage ich gleichmütig, und du kannst das Geld gebrauchen.
„Raus!“ schreit er, „mach dich auf die Socken, du Opportunist, und zwar schnell!“

Eine Woche später rief er an. Ich hafte darauf gewartet und war immer unruhiger geworden.
„Komm vorbei“, sagte er mit fast tonloser Stimme, „Ich muss mit dir reden.“
Er saß auf der Terrasse. Nach dem Regen der letzten Tage war die Luft klar und erfrischend. Kein Whisky auf dem Tische, sondern eine Flasche Rotwein aus der Toskana. Das war mir lieber.

Er goss mir ein, wir tranken und schwiegen. Ich beobachtete ihn. Kein aufziehendes Gewitter hinter seiner Buckelstirn, kein grimmig zuckender Mund, nicht einmal die gefährlich glimmenden Funken in den Augen.
Schließlich sagte er: „Ich habe mich entschieden. Ich höre auf. Unterbrich mich jetzt nicht! Als Maler bin ich am Ende. Das ist mir jetzt bewusst geworden. Die Zeit ist um. Was ich gemacht habe, vierzig Jahre lang, kann sich sehen lassen. Es muss kein Alterswerk geben. Zeugnisse später Reife, wie das die Kritiker zu bezeichnen pflegen, sind von mir nicht zu erwarten. Also Schluss! Und warum auch nicht? Denk‘ mal an den Literaten Koeppen und den Komponisten Sibelius. Die Welt lag auf der Lauer - vergeblich, beide waren lange vor ihrem Tode am Endpunkt ihres Schaffens angelangt. Ich bin kein Tizian, kein Picasso – die konnten noch im hohen Alter pinseln, und, weiß Gott, sie hatten noch etwas mitzuteilen. Das Alterswerk war großartig. Bei mir ist Schluss.
Soll ich mich auf neue Mätzchen einlassen? Von einer kindlichen Spielerei ausgehend einen Stil praktizieren, den einige Verrückte preisen? Soll ich mich verstellen, die Achtung vor mir selbst verlieren, mich lächerlich machen? Wals, senil und debil, seinen sechsjährigen Enkel imitierend? Nein, nein und nochmals nein!“
Ich schwieg und bewegte den herben Rotwein im Mund. Er hatte Recht, und er hatte den Anspruch auf seine persönliche Entscheidung.

Ich verstehe das, sagte ich nach einer langen Pause, niemand darf dich daran hindern, dein Leben noch einmal in die eigenen Hände zu nehmen und einen neuen Kurs zu steuern. Kein neuer Stil, aber ein neues Leben! Was willst du tun?
Er lächelte mir erleichtert zu: „Geh ins Haus! Es ist schon leer. Alles abtransportiert Hanna hat das geregelt.“
Wochen später verbreitete sich die Nachricht, Wals sei verstorben. Das ging wohl von Leisendonk aus. Geschäftsinteresse!
Die Preise ziehen an, wenn ein Künstler tot ist. Dabei hatte der Galerist formuliert: Frédéric Wals hat seinen Weg als Maler beendet. Wir laden ein zu einer Gedächtnis-Ausstellung.

Es kamen Nachrufe und Würdigungen, immer wieder fanden Ausstellungen statt. Wals als Grafiker, Wals als Porträtist, Wals und die 60er Jahre, etc. etc. Dann konzentrierte sich die Welt auf Neues, Aufregendes und begann Wals und seine Bilder zu vergessen.
Wo Wals jetzt lebt?
In der Toskana. Er besitzt ein bäuerliches Anwesen, hat die Scheune umgebaut, - sein Blick geht über Hügel, Hänge und Bergdörfer. Sie gestaltet Modeschmuck, und er hilft dabei. Zwei Juweliere in Florenz nehmen ihr die Ware ab. Manchmal ist sie auf einer Messe vertreten. Sie haben ihr Auskommen. Ich war einige Male bei ihnen. Sie sind heiter und zufrieden.
Ob er noch malt?
Aber nein! Damit hat er abgeschlossen. Einige Muster beim Modeschmuck stammen wohl von ihm. Das ist alles.
Sie leben unauffällig und zurückgezogen. Was für ein wunderbarer Ruhestand!

Das war die Geschichte...
Ich entnehme Ihrem lächelnden Schweigen, dass sie Ihnen gefallen hat.
Obwohl sie alles andere als spannend ist.

Die Medien würde sie nicht interessieren...


© Joachim Klinger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007