Goldener Oktober

von Fritz Eckenga

Fritz Eckenga - Foto © Frank Becker
Goldener Oktober
 
Was für ein Bild. Tiefstehende Herbstsonne über rostgoldenem Blattlaub. Schon sichtbar der Atem des nahenden Winters vor Wanderers Lippen. Ocker und Beige verschwimmend unter halbkahler Baumkrone. Dort scharfer Kontrast. Dicke schwarze Krähen vor schneidend blauem Himmel. Sonst noch was? Ja, vielleicht später da drüben auf der Lichtung ein mächtiger Hirsch, schwitzend. Soweit das Gesicht.
Jetzt die Nase: Feuchte Strohstoppeln, erstickte Kartoffelfeuer, Heckenschnitt. Kastanien und Eicheln. Klammes Baumlaub in ersten Haufen. Saftiger Modder. Goldener Oktober: Fest der Sinne? So gesehen und gerochen schon. Doch die Prägung der frühen Jahre läßt sich nicht verdrängen. Gedächtnis riecht und sieht anders. Demnach war Goldener Oktober nämlich eindeutig eine braune Flasche mit einem Etikett, das die süße Klebrigkeit des perlenden Inhalts stilsicher vorweg nahm. Goldener Oktober stand auf gehäkelten Unterdeckchen oder auf Zinntellerchen. Auf niedrigen Wohnzimmertischen. Darauf noch Onyx-Aschenbecher und Zigarettenspender mit HB für die Männer und Lord Extra für die Frauen. Oder waren es Kim und Attika? Goldener Oktober war sonn- und feiertags zwischen schwitzenden Erwachsenen in Polstergarnituren mit gestrickten Schonbezügen vor neuer Schrankwand, war der stehende Geruch von zweierlei Braten mit brauner Sauce und Erbsenundmöhren aus dem Glas, in ständigem Widerstreit mit Turmfrisursprayschwaden und Männerbriskdunst.
Goldener Oktober war keine Jahreszeit. Goldener Oktober war ganzjährig, war Geburtstag im Januar und Konfirmation im Mai, war Omas Sechzigster im Juli und Heiligabend und erster und zweiter Feiertag mit Doppelkornonkeln und Buttercremetanten in Korsetts, die die unvermeidlichen Braten-mit-Sauce-und- Buttercreme-drauf-Verdauungsgeräusche resonanzfelltypisch verstärkten. Und Goldener Oktober war ganz besonders Silvester mit Luftschlangen im Kronleuchter und Bowle mit Goldenem Oktober und Kellergeister und Dosenananas. Davon durften auch die Kinder ein Glas. ,,Aber nur eins!“
Goldener Oktober sah nicht gut aus und roch nicht gut. Goldener Oktober roch nach dem Taschentuch von Mutti, in das sie spuckte, um ihrem Kind die Reste des Schokoladenpuddings vom Mund zu wischen, bevor die Verwandten kamen.
Goldener Oktober war Wachliegen im Bett und hören, wie Erwachsene schmutzig lachen.
 

© Fritz Eckenga