Heine-Gedicht mit Wischeimer vorgetragen

von Erwin Grosche

Heine-Gedicht
mit Wischeimer vorgetragen
 
Ich traf einen Bekannten in der Innenstadt. Er vertraute mir an, daß er Stadtführer werden wollte. Er hätte gerade ein Heinegedicht auswendig gelernt, weil man manchmal auch den Touristen mit Kultur kommen müsse, auch wenn dann doch keiner zuhören würde. Er hatte einen Hund bei sich, dessen Rasse so selten war, daß ich nie auf den Namen der Rasse kam, wenn ich sie erwähnen wollte. Wir standen also vor dem Lidl und seine Nase lief. Kein schönes Bild, aber wenn es kalt ist, läuft einem die Nase. Er wollte mir nun das Heinegedicht vortragen, weil er durch das häufige Sprechen dieses Klassikers ihn bestimmt einmal fehlerfrei aufsagen könnte. Ich nickte. Mir fiel auf, daß er in der rechten Hand einen Wischeimer trug, der in der Mitte geteilt war, als wäre es von Vorteil, beim Wischen zwei Wassersorten zur Auswahl zu haben. Er fing also an Heine zu rezitieren. „Heine: Gespräch auf der Paderborner Heide. Hörst du nicht die fernen Töne, wie von Brummbaß und von Geigen? Dorten tanzt wohl manche Schöne den geflügelt leichten Reigen. - Ei, mein Freund, das nenn ich irren, von den Geigen hör ich keine, nur die Ferklein hör ich quirren, grunzen nur hör ich die Schweine.“
Ich war gerührt. Obwohl er das Stück sehr uninspiriert vortrug, keine eigenen Betonungen einbaute, die das Gesagte interpretieren sollte, hörte ich ihm gebannt zu. „Hörst du nicht das Waldhorn blasen? Jäger sich des Weidwerks freuen, fromme Lämmer seh ich grasen, Schäfer spielen auf Schalmeien. - Ei, mein Freund, was du vernommen, Ist kein Waldhorn, noch Schalmeie; nur den Sauhirt seh ich kommen, heimwärts treibt er seine Säue.“ So sprach der zukünftige Stadtführer holpernd und stolpernd das zarte Gedicht, welches Heine auf der Paderborner Heide ansiedelte. Inzwischen waren immer mehr Kunden aus dem Lidl herausgekommen. Alle blieben stehen und lauschten den Tönen. Es war wunderbar. Ich dachte nur, daß man so Heine rezitieren mußte. Wichtig waren der Wischeimer und der Hund, dessen Rassennamen sich niemand merken kann. Wischeimer und Hund nahmen Heine den Pathos, den dichterischen Nervton. So wurde Heine lebendig und auch für Lidlkunden attraktiv. Noch bevor mein Bekannter das ganze Gedicht, immerhin 11 Strophen, aufgesagt hatte, setzten alle Lidl Kunden ein: „Hörst du nicht das ferne Singen, wie von süßen Wettgesängen? Englein schlagen mit den Schwingen lauten Beifall solchen Klängen. - „Ei, was dort so hübsch geklungen, ist kein Wettgesang, mein Lieber! Singend treiben Gänsejungen ihre Gänselein vorüber.“ Mein Bekannter sprach das Gedicht unbeirrt zu Ende, wischte sich den Tropfen von der Nase und ging hinaus in das Paderquellgebiet, wo sein sonderbarer Hund ihn hinzog.
 
 
 
© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter