Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Von erreichten und
unerreichten Zielen


20. Mai: Unterwassergebet
Lieber Gott, laß diesen Hai
Schwimmen, doch an mir vorbei
und verzeih, wenn ich nachhake
doch vertreibe auch den Krake
stell der Qualle eine Falle
und beschütz uns Taucher alle
 
22. Mai: Der leere Teller: Sie hatte mir den Teller direkt vor der Nase weggezogen. Ich hatte gerade den letzten Bissen der Kartoffel heruntergeschluckt, als sie kam und mir den leeren Teller nahm. Ich blickte ins Leere. Wo war der Sinn? Wo war Gott? Ich hatte noch die Gabel in der Hand und fand keine Ablage mehr, auf der ich sie legen konnte. Das war überraschend. Alles wirkte plötzlich so entstellt. Ich kam mir seltsam fehl am Platze vor, als hätte man mir den Stuhl unter dem Hintern weggezogen, als wäre meine Geliebte verschwunden, während ich schlief, als hätte ich ein Puzzle gelegt, bei dem das letzte Teil abhanden gekommen war. 
 
25. Mai: Das Ziel. Er hatte schon beim ersten Treffen mit ihr schlafen wollen. Sie war so anders als alle anderen, mit der er bisher ausgegangen war. Beim ersten Date bezahlte sie noch ihr Essen selbst, beim zweiten Treffen durfte er für sie zahlen. Er machte sich Hoffnungen. Wie glücklich war er, als er sie nach Hause fahren durfte. Er trank extra keinen Tropfen Alkohol und gab konzentriert ihre Adresse in das Navi ein. „Auf jeden Fall könnte ich sie schon mal stalken“, dachte er. Als er vor ihrer Haustür stand, fragte sie endlich die Frage aller Fragen: „Hast Du noch Lust mit heraufzukommen?“ Das war der Schlüssel zum Glück. Er wollte gerade „ja“ sagen, als sein Navi frohlockte: „Sie haben ihr Ziel erreicht“. Er nickte nur noch und lächelte sie an.
 

© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker