Weibliche Unschuld

von Johann Gottfried Seume

William Adolphe Bouguereau - Die Geburt der Venus 1863


Weibliche Unschuld
 
Without the graces, innocence imparts,
You never win others nor secure your hearts.

Die Allgewalt des lieblichen Geschlechtes
Beherrscht mit schöner Zauberey,
Der Stolze trägt nur härtre Sclaverey
Im Traume des verlornen Rechtes,
Beherrscht den Geist des Königs wie des Knechtes:
Der edelste bleibt nicht der Fesseln frey.

Die Schönheit rührt, doch nur die Anmuth sieget,
Und Unschuld nur behält den Preis,
Die Unschuld die von keiner Schminke weiß
Und überwindet und nicht krieget,
Und mehr allein durch ihre Reitze wieget,
Als aller Kunst gemeßner Modefleiß.

Das Herrlichste, was wir auf Erden schauen,
Was magisch oft Barbaren zähmt,
Und selbst die Hand des Bluttyrannen lähmt,
Ist, bleibt ein Weib, das voll Vertrauen,
Sich kaum bewußt, den Rest gemeiner Frauen
Durch Tugenden von hohem Werth beschämt.

Die Anmuth thront auf ihrer heitern Stirne,
Und ihre schöne Seele mahlt
Sich in dem Blick, den sanft ihr Auge strahlt:
Sie dreht als Phöbus Lieblingsdirne
Nicht ein System mit Aufwand von Gehirne,
Dem Schmeicheley nur kalten Beyfall zahlt.
 
Die Sittsamkeit glänzt sanft in ihren Blicken;
Wie ungleich jenem Angesicht,
Wo jeder Zug nur Aphroditen spricht,
Wo in der Lockung frechem Nicken,
Und jedem Wort Begierden sich verstricken,
Wo jeder Wink der Tugend Schranken bricht!
 
Die Unschuld ist die Grazie der Schönen,
Die lieblich jede Freude würzt,
Genuß vermehrt und Kummerstunden kürzt.
Kein Frevler wagt es, sie zu höhnen;
Um sich vielleicht der Tugend auszusöhnen,
Wenn rund um ihn die Hoffnung nieder stürzt.
 

Johann Gottfried Seume