Unter einer Glasglocke

Scott Bradfield – „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“

von Frank Becker

Umschlagillustration: Barbara Erdmann
Unter einer Glasglocke
 
„Eines späten Abends, als sie drei Jahre alt war, wurde Salome Jensen von dem Mann, der den Heißwasserboiler reparierte, gepackt und mit in eine kleine, fast unmöblierte Bungalowwohnung in Van Nuys genommen, wo sie von da an lebte. Sie wusste, daß es dabei nicht mit rechten Dingen zuging, daß es zu plötzlich für einen normalen Urlaub war und daß der Mann, den sie Daddy nennen sollte, nicht ihr richtiger Daddy war. Doch von dem Augenblick an, als er sie hinten in seinem warmen, knoblauchduftenden VW-Bus absetzte, wusste sie, daß sie vor allem geschützt und bewahrt war, wovor bisher ihre Eltern sie geschützt und bewahrt hatten. Sie weinte nicht, sie wehrte sich nicht, sie wusste, daß alles sich, wie Mommy immer gern sagte, „zum Besten wenden“ würde. Und schließlich nahm sie das Leben mit ihm sogar als eine Art Zuhause an.“
 
(…hier den nächsten kursiv gesetzten Absatz überspringen, wenn Sie den Schluß des Buches nicht vorab lesen möchten!)
 
„Ich bin so weit gegangen, wie ich konnte“, flüsterte Sal, „und dann bin ich zurückgekommen. Beinahe hätte ich ein Buch geschrieben; ich hatte zweimal denselben Daddy, habe auf einem Baseballfeld geschlafen, in überfluteten Kellern und toten Autos gewacht. Ich habe die Namen von tausend Leuten gelernt und genauso schnell wieder vergessen. Ich habe Leute wegen Missbrauchs ins Gefängnis gebracht und in einem Waschsalon geschlafen, und fast hätte ich geheiratet. Und dann, als ich am wenigsten damit rechnete, hat mich die staatliche Kinderfürsorge hier in dieses Haus gebracht und mir gesagt, daß ich hierher gehöre und daß ich erst wieder weg darf, wenn ich so alt bin, daß ich nichts mehr habe, wohin ich noch gehen kann. Mit vollem Namen heiße ich Salome Erin Jensen, aber ich selbst nenne mich Sal. Sal, die fortging und wieder zurückkam. Sal, die Bilder am Küchentisch malt. Sal, die in ihrem kleinen Bett schläft und nicht so anhänglich ist, wie sie sein sollte. Sal, die sich die Welt zu eigen  machte, bis die Welt sie nicht mehr wollte. Ich weiß, das ist ein ziemlich komplizierter Gedanke, gerade wenn man ihn tief in der Nacht erzählt bekommt, aber ich musste das einfach loswerden, und jetzt bin ich fertig damit.“
 
Ein Mysterium
 
Lesen Sie manchmal (oder gar stets) den Schluß eines Romans zuerst? Ich kenne solche Leute und verabscheue das zutiefst, würde es nie tun. Hier aber habe ich Ihnen, nachdem ich es verschlungen habe, ungekürzt und unverändert den Anfang und den Schluß eines Buches vorgesetzt, um Ihr Interesse zu wecken, ja Ihre Neugier zu schüren. Es ist damit nichts „verraten“. In dem Roman „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ von Scott Bradfield kommt es nämlich auf das an, was das kleine Mädchen Sal auf den 230 Seiten dazwischen erzählt. Und das ist so unerhört, daß man getrost von einem literarischen Geniestreich sprechen kann. Mit dem beklemmenden, dennoch widersinning leichten Kinder-Schicksal, welches Bradfield mit „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ erzählt, hat er das  Mysterium einer zwar eigentlich unfaßbaren und doch denkbaren Entwurzelung entworfen, wie sie in den USA mit ihren endlosen Weiten, zahllosen Grenzen, oft eigenwilligen, verschlossenen Menschen, elenden Siedlungen und seinem fehlendem Meldewesen tatsächlich möglich erscheit.
 
Es ist sicher eines der ungewöhnlichsten, faszinierendsten, gewiß aber ergreifendsten Bücher die ich je lesen durfte. Scott umgibt den Leser mit einem fein gesponnenen Netz aus Gefühlen, wie man sie bis dahin nie verspürt hat, nicht verspüren konnte, weil was er erzählt, völlig neue Gedankengänge öffnet, an das schreckliche Experiment psychischer Deprivation im 19. Jahrhundert erinnert, das Geschichte gemacht hat. Wie entwickelt sich ein Kind, das zwar marginal geschützt, doch einsam und ohne Liebe, Zuwendung und Zärtlichkeit sich weitgehend selbst überlassen wird? Wie durch Traumwelten einer zweiten, der eigenen Isolation nach außen, begleiten wir das Mädchen Sal über viele Stationen, auf ihren Wegen vorbei an Menschen, die sie sehen, aber nicht wahrnehmen und auch für sie nur temporäre Bedeutung haben. Wie ein sehr kindlicher weiblicher Parzival durchquert Sal den Dschungel ihrer Welt, der aus winzigen Bildausschnitten besteht. Wir erfahren außer vom Ausgangspunkt Van Nuys (Los Angeles) nicht, wo die Orte sind, an denen sie bleibt, zum Bleiben gezwungen wird, wie lange sie sich da oder dort aufgehalten haben mag und vor allem ohne je zu erfahren, wie alt sie derweil geworden ist. Besonders mysteriös ist der Abschnitt, der Sal weg von den Menschen in die absolute Stille der Wüste und ihrer Bewohner führt. Bradfield löst solche Fragen nicht auf, hat eine gläserne Glocke über seine Figur gestülpt, unter der sie sich bewegt, ihre inneren Monologe hält, ihre Weltsicht entwickelt. Ein narratives Meisterstück und weit bedrückender als ihre Entführung ist Sals Rückkehr in die „geordnete“ Welt. Es geht Bradfield in seinem Buch einzig und allein um das Phänomen der Deprivation, das er in harter Konsequenz bis zu einem logischen Schlußpunkt durchdenkt. Analogien zum Problem des Autismus, zu Kaspar Hauser, Peter Weirs „Truman Show“, Rudyard Kiplings „Dschungelboy“ oder gar Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ werden fühlbar.
 
„Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ ist ein Roman, der unter die Haut geht, nicht mehr losläßt und der auch außerhalb der Lektüre so packend bleibt, daß man nicht umhin kann, ihn wieder zu lesen. Scott Bradfield hat damit eines der besten Bücher der zeitgenössischen amerikanischen Literatur geschrieben. Manfred Allié hat es hervorragend ins Deutsche übertragen. Von uns ausgezeichnet mit dem „Musenkuß“.
 
Scott Bradfield – „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“
2013 Residenz Verlag, 233 Seiten, geb. mit SchU - ISBN: 9783701716036  - ISBN ebook: 9783701743292
21,90 € / sFr 29,90
 
Weitere Informationen: www.residenzverlag.com