Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © D. Bogdanski
Von den kleinen Wundern
und Geheimnissen des Lebens


12. November: Natürlich kann man auch eine Suppe mit einer Gabel essen, wenn man Zeit hat und nicht so hungrig ist.
 
13. November: Herr Gollwitz war in seiner Lieblingsbeschäftigung gefangen. Er löste Kreuzworträtsel. Wie immer kam er an seine Grenzen. Er wußte nicht weiter. Zum Glück war seine Frau in der Nähe, die in der Küche am Weinen war. „Schatz, kennst Du das? Lebensende mit drei Buchstaben?“, fragte Herr Gollwitz. Sofort kam die Antwortet seiner Frau: „EHE“. Herr Gollwitz schüttelte den Kopf. „EHE“ paßte zwar von der Buchstabenanzahl her, aber die benachbarten Lösungsworte würden dann keinen Sinn mehr ergeben. „EHE ergibt keinen Sinn“, murmelte er. „Sag ich doch“, schluchzte seine Frau. „Sag ich doch.“
 
15. November: Mein Freund Hartmut wurde von einem Krankenwagen angefahren. Da hat er nochmal Glück im Unglück gehabt.
 
17. November: Mich wundert nicht, daß Staus so ewig daher dümpeln, wenn der ganze Schlamassel von einem LKW angeführt wird.
 
20. November: Beim Ende der Welt wird es danach auch nicht anders aussehen als jetzt. Ich denke mal, das tut sich nicht viel. Vielleicht wird man wieder mehr Parkplätze haben, aber ich glaube auch das noch nicht mal.
 
22. November: Herr Wilsrode hatte eine Wanduhr, die immer die falsche Zeit anzeigte. War es 4 Uhr am Nachmittag, zeigte sie 9 Uhr am Morgen an. Hatte Herr Wilsrode um drei Uhr einen Termin, verwirrte sie ihn mit einer anderen Uhrzeit. Nahm man sie ernst, war man verloren. Nach ihr konnte man sie nicht richten. Auf sie war kein Verlaß. Einmal stellte er sie auf die herrschende Uhrzeit ein. Tatsächlich zeigte sie zwei Stunden alles an, als akzeptierte sie, wie spät es war, um dann wieder herumzuzicken und irgendeine Zeit festzulegen, deren Anwendbarkeit höchst fragwürdig erschien.
Eines Tages schaute Herr Wilsrode wieder auf seine Uhr und sah, daß sie auf Sechs stand. Herr Wilsrode mußte lachen, draußen schien die Sonne und um sechs Uhr war es im Winter immer dunkel, egal, ob man von sechs Uhr morgens oder sechs Uhr abends ausging. Herr Wilsrode fragte sich, wie diese Uhr tickte. Welchen Gedanken ging sie nach? Es konnte doch nicht sein, daß sie einfach nur verrückt war. Herr Wilsrode stöhnte auf. Konnte es sein, daß sie eine innere Uhr war? Gab sie Uhrzeiten an, die seiner Seele nahe standen? Herr Wilsrode hatte nämlich gerade an ein Rendezvous mit seiner Briefträgerin gedacht, welches um sechs Uhr, genau also um die angezeigte Uhrzeit, stattgefunden hatte und das so mißglückt war, daß er seitdem keine Post mehr bekam. Hing einfach an der Wand seine Uhr für innere Seelenzustände? Möglich war alles.


© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker