Eine Puppe namens Status quo

Eine moselfränkische Erinnerung

von Rudolf Engel

Foto © Frank Becker
Eine Puppe namens Status quo
 
Eine meiner frühesten Erinnerungen geht auf ein Erlebnis zurück, das sich zu Beginn des Jahres 1935, also um die Mitte meines vierten Lebensjahres zugetragen hatte. Es muß für den Knaben von damals von derart prägender Kraft gewesen sein, daß es mit dem Interesse und Engagement für mein Heimatland, seine Menschen und deren wechselvolles politisches Schicksal ein Leben lang eng verbunden ist.
 
Eich spieren de wärm Hand vun meim Papp. Mir säan gröd döbei, vun der Hofstroaß aus em de Eck ze biejen, und dö sejhn eich, wej un der Hauswand vun der Wirtschaft Brell en riesisch gruuß Popp, secher aus Pappendeckel gemaach, dö offegängt geft. Oas zwejn fällt gleich off, dat soù vill Leit drem rem stejhn un zoùgucken. Manche brellern döbei:
„Nieder mit dem status quo, nieder mit dem status quo!“,
ebbes, wat eich net verstann hun. Dej miaschten vun de Leit, dej dö stejhn, dej faalen oas dödörch off, datt sei all schwotz Boxen und braun Himmeden un hun, all vun der selwischt Soart.
Gröd säan zwejn vun dennen debei, en gruuß Lääter newen de Popp un de Wand ze stellen. Ääne krawwelt mäat em Ämer äan der Hand off de Lääter roff, un uwen ukomm, kippt henn den Äämer iwer de Kopp vun der Popp.
Körz droff fängt dann dej gruuß Popp vun uawen bes ennen un, lichterloh ze brennen.
 
Die Leute also, die den “status quo” symbolisch in Gestalt einer häßlichen Puppe verbrannten, waren Mitglieder oder Anhänger der “Deutschen Front”, die für die Rückgliederung des “Saargebietes” an das Deutsche Reich und gegen die Beibehaltung des bisherigen politischen Zustandes (status quo) votierten. Die Rückgliederung erfolgte am 1.März 1935.
Es dürfte in meinem Heimatort niemand mehr leben, der, ebenfalls Augenzeuge, mein Erlebnis von damals bestätigen könnte. Erst in jüngster Zeit bin ich auf eine Quelle gestoßen, in der auf die damalige Begebenheit vor der Wirtschaft Brill eingehend Bezug genommen wird: „Daß es sich bei der Saarabstimmung im Januar 1935 nicht mehr um eine freie Abstimmung gehandelt haben kann, macht ein Ereignis deutlich, daß sich in Brotdorf wohl um die Jahreswende 1934/35 zugetragen hat. Der dortige Priester Peter Klein ließ in seinen öffentlichen Äußerungen keinen Zweifel daran erkennen, daß er den Nationalsozialismus entschieden ablehnte und ein Anschluß des Saargebietes an Hitlerdeutschland für ihn nicht in Frage kam. Nur so ist es zu erklären, daß Mitglieder der „Deutschen Front“ gegenüber dem Pfarrhaus einen Galgen errichteten, an dem eine Puppe hing, die einen Status-quo-Befürworter darstellen sollte.“
(Rauls, Bernd: Verfolgung und Widerstand In: Heimatbuch des Landkreises Merzig-Wadern, Merzig 1991, S. 164)

Nachtrag:
Pastor Peter Joseph Klein wurde 1937 die missio caninica, die Erlaubnis zur Erteilung des Religionsunterrichtes, offiziell entzogen. Inoffiziell setzte er aber auch diese seine Lehrtätigkeit fort. Als Beleg führe ich an, daß er, ein Verfechter der sog. Frühkommunion, mehrere Male zu uns nach Hause kam, um meine Eltern zu bewegen, mich als jüngstes Brotdorfer Kind dafür zu gewinnen, Ostern 1938 mit sieben Jahren die Heilige Kommunion zu empfangen. Im selben Jahr verhalfen ihm junge Burschen der Kolpingsfamilie zur Flucht aus Brotdorf, um sich der bereits eingeleiteten Verhaftung durch die Staatspolizei zu entziehen.
 

© Rudolf Engel