Skeptischer Bürger aus dem Berliner Westen

Zum Tode von Wolf Jobst Siedler

von Jürgen Koller

Foto © Siedler Verlag
Skeptischer Bürger aus dem Berliner Westen
 
Zum Tode von Wolf Jobst Siedler
 
Eine Würdigung des Buchautors,
Publizisten und Verlegers
 
 
In der Person von Wolf Jobst Siedler vereinte sich eine große schriftstellerische Begabung, ein Publizist mit spitzer Feder und ein Verleger mit untrüglichem Gespür für Erfolg. Mit stilistischer Brillanz, auch mit wehmütiger Trauer schrieb er sich den Verlust an „Bürgerlichkeit“ von der Seele. Besonders im alten West-Berlin, aber auch später in der wiedervereinigten alten und neuen Hauptstadt Berlin hatte er schmerzhaft „ Berlins gelebte Großbürgerlichkeit“ (Arnulf Baring) vermisst. Siedler, der skeptische Bürger aus dem Berliner Westen, richtete seinen Blick bereits nach dem Osten, in die Mark Brandenburg - der Heimat seiner Familie – und nach jenseits der Oder, als das alles für die Literaten der alten Bundesrepublik noch kein Thema war.  Die Erinnerung an die für immer verlorenen Räume, wo sein „Lebensgefühl“ als Berliner ein zu Hause hatte, beschrieb er in solchen Büchern wie „Weder Maas noch Memel“, “Wanderungen zwischen Oder und nirgendwo“, „Abschied von Preußen“ u.a.. Nie wird Siedler in seinen Texten sentimental oder larmoyant. Berlinisch direkt, stets verbindlich, kein Verzweifeln, dabei den Schmerz über das Verlorene nicht unterdrückend, so hat er die geopolitischen Gegebenheiten seiner Zeit gesehen. Nur in dem Werk des ostdeutschen Literaten Günter de Bruyn, dem Siedler sich verbunden fühlte, sah er seine Sicht gen Osten reflektiert.
 
Wolf Jobst Siedler wurde 1926 im bürgerlichen Berlin-Dahlem geboren. Sein Vater war bis 1918 kaiserlicher Diplomat im vorderen Orient, in der Weimarer Zeit Syndikus und Justiziar des Reichsverbandes Papier und Pappe , der seinen Sitz in Berlin hatte. Siedlers Geburtshaus im Falkenried, ein Reihenhaus im „Gartenstadt-Stil“ aus der Zeit vor 1914, sollte über all die Jahrzehnte sein und seiner Frau Imke Domizil bis zu seinem Tod am der 27. November dieses Jahres bleiben. Mit Bürger-Stolz verwies Siedler auf seine prominenten Gäste , die er als Autoren der Verlage, deren Chef er war, in seinem Haus oder in seinem verwunschenen Garten bewirtet hatte – den Emigranten Hans Wallenberg, der ihn zum Propyläen-Verlag gebracht hatte, den Architekten und ehemaligen NS-Bau-und Rüstungsminister Albert Speer, aber auch hochkarätige Politiker wie Willy Brandt, Helmut Schmidt, Henry Kissinger oder Richard von Weizsäcker.
Als Siedler mit einundzwanzig Jahren 1947 aus britischer Kriegsgefangenschaft in das zertrümmerte Berlin zurück kam, hatte er schon
bewegte Jahre hinter sich – Gymnasium und Marinehelfer auf Spiekerook, eine mehrmonatige Haft wegen regimekritischer Äußerungen, schließlich zur „Frontbewährung“ verurteilt und in Italien verwundet. Er bemühte sich vergebens um einen Studienplatz an der Humboldt-Universität. Erst durch Fürsprache von Oberst Sergej Tulpanow, dem höchsten Kulturoffizier im Ostsektor Berlins, erhielt er die Zulassung. Von Tulpanow, ob dessen solider literaturwissenschaftlichen Bildung, hatte Siedler auch Jahrzehnte später noch eine hohe Meinung. Nach der Berlin-Blockade durch die Sowjets und der Gründung der Freien Universität in West-Berlin studierte Siedler noch einige Semester Literatur, Philosophie und Geschichte, ohne es je zu höheren akademischen Weihen gebracht zu haben. Ein Zubrot verdiente er sich als Artikelschreiber für Melvin Laskys „Der Monat“ und für die amerikanisch lizenzierte „Neue Zeitung“. Ironisch distanziert sagte er von sich: „Anfang der 50er Jahre war ich ein Niemand.“ Seine journalistischen Beiträge und seine rechte, konservative Haltung müssen aber den Amerikanern gefallen haben, denn er wurde  im Jahre 1953 im Alter von 27 Jahren zum „ Generalsekretär des deutschen Büros des Kongresses für die Freiheit der Kultur“ bestellt. Siedler sprach selber von einem „pompösen Titel“. Seiner vorzüglichen Feder hatte er es zu verdanken, daß er ab 1955 für acht Jahre Feuilleton-Chef des „Tagesspiegels“ wurde, damals die wichtigste Zeitung West-Berlins. Siedler gab dem „Tagesspiegel“ ein neues Layout und versuchte, das Feuilleton mehr auf Internationalität auszurichten. Er hatte keine Scheu vor großen Namen. So zerlegte und verriss er Marlene Dietrichs weltweit gefeierten Song „Sag mir wo die Blumen sind“. Die Dietrich war daraufhin in Paris einem Nervenzusammenbruch nahe. Oder er rechnete in dem Artikel „Wanderer zwischen zwei Welten“ im November 1957 mit dem Bildhauer Gustav Seitz ab, der um 1950 seine Lehrtätigkeit an der West-Berliner Hochschule für Bildende Kunst gegen eine Lehrtätigkeit in Ost-Berlin und die Mitgliedschaft in der dortigen Akademie der Künste getauscht hatte und sich vom SED-Staat hoch dekorieren ließ. Im Jahre 1957 wollte das SED-Mitglied Seitz dem Osten den Rücken kehren und eine Professur in Hamburg annehmen, gewiss „weil er sich von der Kunstfeindlichkeit Pankows überzeugt“ hatte. Jahrzehnte später bedauerte Siedler, damals so rigide auf den Bildhauer eingeschlagen zu haben, nicht ohne zu erwähnen, daß Seitz in Ost-Berlin auch Bleibendes geschaffen habe, so etwa das Käthe-Kollwitz-Denkmal im Stadtteil Prenzlauer Berg.
 
Die Krönung der Karriere von Wolf Jobst Siedler sollte aber ab 1963 seine Cheffunktion im Propyläen Verlag und und später bei der Ullstein GmbH sein. Er wurde zur herausragenden Verleger-Persönlichkeit – hier sei nur auf das 12-bändige Kompendium „Weltgeschichte“ unter der Herausgeberschaft von Golo Mann verwiesen. Siedler hatte unternehmerisches Gespür, Fortune und Mut zu verlegerischen Entscheidungen, ohne dabei auf die öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen. Das belegen zwei gegensätzliche Werkausgaben: Die „Hitler-Biographie“ von Joachim Fest und die besonders von der linken politischen Öffentlichkeit als Verharmlosung der Nazi-Zeit gescholtenen „Spandauer Tagebücher“ von Albert Speer.
Nach „einvernehmlicher Trennung“ vom Hause Springer (1978) gründete er den Siedler Verlag, prädestiniert für historische und politiknahe Literatur. Sein Spürsinn für Stoffe und Themen verließ ihn fast nie.
 
Berlin lag ihm am Herzen. Wolf Jobst Siedler war die prägende literarische und intellektuelle Gestalt des alten, eingemauerten West-Berlin. Seine phantastische Belesenheit, seine umfänglichen Kontakte zu Freunden und Bekannten, seine Kenntnisse in Fragen der Stadtarchitektur, aber auch seine familiäre Tradition, die selbst einen Gottfried Schadow einSchloß, ließen ihn 1964 das zornige Buch „Die gemordete Stadt“ schreiben. Eine Abrechnung mit der damaligen Bau-Moderne, die den „Mut zur Lücke“ im Stadtraum zelebrierte und gnadenlos Erhaltbares, vom Krieg mehr oder weniger Verschontes, der Abrissbirne freigab. Siedler hätte auch Senator werden können. Angebote hatte er, auch von seinem Freund, dem damaligen Bürgermeister Klaus Schütz, aber er wollte seine politische Unabhängigkeit nicht aufgeben. Er sperrte sich aber auch nicht gegen positive Trends im Städtebau, so war er im Beirat für die Berliner Bauausstellungen aktiv tätig. Obwohl Siedler das SED-Regime wegen dessen Kultur- und Traditionslosigkeit verachtete - Sprengung des StadtSchloßes und das wahllose Schleifen von Guts- und Herrenhäusern auf dem flachen Land - äußerte er sich doch respektvoll darüber, daß die finanziell ausgeblutete DDR neben der Humboldt-Uni, der Lindenoper, der Neuen Wache, dem Zeughaus, der Museumsinsel, fast am Ende der sozialistischen Ära noch das Schinkel-Schauspielhaus mit den beiden Domen am Gendarmenmarkt wieder herrichten ließ.
 
Als Mann des gedruckten Wortes war Siedler fest in der bürgerlichen Literatur der Zwanziger Jahre verwurzelt, diese prägte sein
Literaturverständnis. In Thomas Mann hatte er mit den „Buddenbrocks“, dem „Zauberberg“ und der „Josephs-Trilogie“ seinen literarischen Fixpunkt gefunden. Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ waren ihm genauso wichtig wie Gottfried Benns Gedichte oder die frühen Werke von Bertolt Brecht. Aber auch die junge Anna Seghers mit „Der Aufstand der Fischer von St. Barbara“ oder Arnold Zweigs „ Der Streit um den Sergeanten Grischa“ fand er für die deutsche Literatur bedeutsam. Zur bundesdeutschen Nachkriegsliteratur konnte er kaum Beziehungen entwickeln. Der kleinbürgerlichen Themenwelt eines Heinrich Böll oder eines Martin Walser konnte er nichts abgewinnen. Auch zur Literatur von Günter Grass blieb sein Verhältnis unterkühlt, trotz der „Blechtrommel“. „Endlich eine neue Stimme“ hatte Siedler beim Erscheinen von Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ geäußert. Johnson erzählt vom geteilten Vaterland, ein Stoff, den Siedler in der westdeutschen Literatur so vermisst hatte – keiner schreibe über Berlin, über das geteilte Deutschland oder über den Osten, „nichts über unsere zerrissene Welt.“ Der Blick der Literatur richte sich nur gen Frankreich, Italien, England oder über den Atlantik.
 
Wolf Jobst Siedler, der vielseitig gebildete Mann von ästhetischem Geschmack und von sicheren Umgangsformen, erlitt in seinen frühen 60er Jahren einen Gehirnschlag - „mein Stalingrad“ wie er damals meinte. Mit Energie und Geduld kämpfte er gegen seine Behinderung an. Er lernte, mit Einschränkungen zu leben. Bis ins hohe Alter schrieb er an seinen Lebens-Erinnerungen. Mit dem voluminösen Band „Wir waren noch einmal davon gekommen“, den Titel von Thornton Wilders Schauspiel entliehen, das 1946 in Berlin die Theatersensation war, Schloß sich der Lebenskreis dieses von vielen der älteren Generation bewunderten und geachteten skeptischen Konservativen aus dem Berliner Westen. Mauerfall und nationale Einheit haben ihn nicht versöhnt mit der Gegenwart. Was bleibt, ist „ein elegischer Grundton der Trauer“ über das Versinken des alten, bürgerlichen Europas. Mit dem Verlust der Eliten konnte er sich letztlich nicht abfinden. Der „Trivialökonomismus“ der neuen Eliten hat ihn abgestoßen.
 
 
 
© 2013 Jürgen Koller