Stadttäubchen gehen überdurchschnittlich viel zu Fuß

von Rudolf Engel

Foto © Frank Becker

Stadttäubchen gehen überdurchschnittlich viel zu Fuß
 
So kam es denn auch, daß der Büroangestellte Schneider sich von seiner Frau hatte anscheißen lassen müssen, weil er entgegen seiner sozialisierten Gewohnheit 25 Minuten zu spät von der Arbeit nach Hause fand. Die Gattin wollte keine Entschuldigung annehmen, erst recht nicht die einzig wahre, die der ehrliche Ehemann ihr dennoch vortrug: daß ihm nämlich auf seinem Weg entlang der beschatteten Lichtentaler Allee ein Täubchen begegnet sei, das ihn so freundlich angesprochen und zu einer angenehmen Unterhaltung angeregt hätte, dergestalt, daß er besagtes Täubchen schließlich für morgen, an seinem freien Tag, zum Fünf-Uhr-Tee eingeladen habe.
 
Am darauf folgenden Tag war der Mann in Erwartung seines Nachmittagsbesuches schon seit dem Mittagsschlaf, der nicht gelingen wollte, sehr aufgeregt. Er ließ sich aber durch die ständigen Hänseleien seiner Frau, daß er wohl einem spinstigen Tagtraum aufgesessen sei, nicht beirren und beteuerte, seine Bekanntschaft sei so vertrauensfest aufgetreten, daß er keinen Zweifel an ihrem heutigen Erscheinen hätte.
16 Uhr 30: Unser Herr Schneider geht unruhig in der Wohnung auf und  ab.
17 Uhr 05: Schneider schaut zum Fenster hinaus, kann aber nichts sehen.
17 Uhr 15; Das hämische Gelächter seiner Frau bringt ihn noch mehr auf die Palme.
17 Uhr 20: Es klingelt; er eilt zur Haustür und öffnet.
 
Tief unter ihm auf der Schwelle steht das muntere Täubchen, dreht das Köpfchen artig zu ihm hoch nach oben und sagt:
„Entschuldigen Sie meine Verspätung; aber das Wetter war so schön, da bin ich die wunderschöne Allee zu Fuß gegangen!“
 
 
 
© 2014 Rudolf Engel
Redaktion: Frank Becker