Allerheiligen

Besuch auf einem Friedhof in Polen

von Beate Karch und Frank Becker

Foto © Frank Becker
Allerheiligen

Wenn sie am 1. November, einem der höchsten kirchlichen Feiertage in Polen, bei einbrechender Dunkelheit in einen kleinen Ort kommen und den Friedhof suchen, müssen sie niemanden danach fragen - richten sie ihren Blick in die Runde, den Kopf vielleicht ein wenig in den Nacken gelegt und suchen sie nach dem hellen, warmen Lichtkegel, der eine sanfte Kuppel im nebligen Dunst formt. Dort werden sie den Gottesacker finden. Es ist Allerheiligen.

Nun werden sie sagen: Allerheiligen, haben wir auch. Schon, aber doch wird dieser Feiertag in Polen ganz anders begangen. Keiner von den grauen, stillen Tagen ist es, nein: ein Feiertag für die Heiligen und die Toten. Nehmen wir zu Beispiel Piekary SL, eine gottesfürchtige schlesische Stadt von 60.000 Einwohnern. Bereits am Vortag oder spätestens am Vormittag von Allerheiligen wird mit vereinten Kräften daran gearbeitet, die Gräber des ein wenig oberhalb der Stadt gelegenen Friedhofs herzurichten. Das ist nicht mit einem Blümchen und einer Grabkerze abgetan. Schließlich kommen am Feiertag Hunderte von Besuchern zu den Gräbern, und da wird durchaus auch schon mal mißbilligend oder bedauernd aufs Nachbargrab geblickt und mit nicht immer dezentem Fingerzeig geraunt: Schau mal, den hat niemand besucht, oder auffällige Sparsamkeit wird bemängelt. Nein gespart wird nicht. Frische Blumen, schöne Kränze und viele große und kleine Kerzen werden um die Grabplatte und den Grabstein gruppiert. Schließlich geht es um die, welche man liebt und vermißt.

Auch mischen sich  bei den Familientreffen am Grab - selten findet man auf einem Friedhof so viel Leben wie zu Allerheiligen - slawische Lebensfreude und schlesische Tradition. Bei angeregten Gesprächen und dem besagten dezenten Blick in die Runde vergeht durchaus schon mal ein Stündchen oder mehr. Hinzu kommt, daß es oft schon knackig kalt ist - die erste gute Gelegenheit für die Damen, ihre neuen Pelze aus- und vorzuführen. An Tagen, die sich nicht an die gewohnte Temperaturkurve halten und es überraschend warm ist, soll so manche elegante Friedhofsbesucherin schon mächtig unter Persianer, Nerz oder Fuchs geschwitzt haben. Aber getragen wird das gute Stück auf jeden Fall, bis man es schließlich wieder zu Hause ordentlich in den Schrank hängt. Spätestens zur Christmesse kommt es erneut zum öffentlichen Einsatz. Und zurück zu Hause gibt es  dann auch ein ordentliches Feiertagsessen und das eine oder andere Gläschen Wodka. So macht das Leben Spaß. Auf den Friedhof wird man uns schon früh genug tragen. Wenn es soweit ist, freuen wir uns selber über Besuch, Blumen und Kerzen.

Ist es am Abend wieder still geworden zwischen den Gräbern, geben die Hunderte von Lichtern in der Dämmerung und der Nacht ihr tröstliches Licht, in dem die Seelen der Verstorbenen sich nicht so allein fühlen. Und den Heiligen zeigen sie den Weg zu ihren Schutzbefohlenen.
 


© Beate Karch/Frank Becker