„Poesie und Empörung“

Vier Theaterabende in Münster

von Joachim Klinger


© Joachim Klinger

 

„Poesie und Empörung“
 
Vier Theaterabende in Münster
 
 
„Poesie“ und „Empörung“ – zwei Begriffe, die kaum in Einklang zu bringen sind! Die beseelte Schönheit dichterischer Worte und das Aufbegehren in niederdrückender Alltäglichkeit …
 
Im Münsteraner Pumpenhaus bringt man beides zusammen: das dichterische Wort, das sich über den Alltag erhebt, und die Empörung gegen den Alltag. Der Regisseur Manfred Kerklau, Gründer der MA-KE Produktion, der bereits neun Werke für die Bühne herausgebracht hat, und die Choreographin Annelise Soglio orientieren sich am Leben des im Jahr 2013 im Alter von 96 Jahren verstorbenen Stéphane Hessel, einer überaus bemerkenswerten Persönlichkeit der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Als deutscher Jude 1917 in Berlin geboren, zog Hessel 1924 mit seinen Eltern nach Paris, erwarb 1939 die französische Staatsangehörigkeit und schloß sich im Krieg während der deutschen Besatzung der Résistance an. Er wurde verhaftet, verhört und gefoltert und schließlich in das KZ Buchenwald deportiert. Hier nun, im Todeslager, gewann Hessel Haltung und Lebenswillen durch die Kraft des dichterischen Wortes. Er rezitierte heimlich Verse von E.A. Poe und William Butler Yeats, von François Villon und Arthur Rimbaud, von Rilke und Trake. Sonette von William Shakespeare und Gedichte von Hugo von Hofmannsthal trugen ihn durch schlaflose Nächte und qualvolle Tage.
 
Nach dem Kriege und seiner Befreiung wurde Hessel Diplomat und arbeitete an der Fassung der Menschenrechte für die UNO-Charta mit. Die 88 lebensrettenden Gedichte begleiteten ihn weiter (veröffentlicht sind sie unter dem Titel „O ma mémoire, Gedichte, die mir unentbehrlich sind“ im Grupello Verlag, Düsseldorf, 2010).
Stéphane Hessel, der klarsichtige Beobachter der Welt und ihrer Mißstände, blieb aber auch im hohen Alter nicht untätig im kontemplativen Winkel hocken. Er suchte die Öffentlichkeit und verfaßte mit 93 Jahren die Kampfschrift: „Empört euch!“ Sie traf so sehr eine allgemeine Stimmungslage in der Bevölkerung, daß sie großes Aufsehen erregte und umgehend aus dem Französischen in viele andere Sprachen übersetzt wurde. Bleibt nicht gleichgültig! forderte der Appell. Nehmt Anteil am Geschehen, beteiligt euch an notwendigen Veränderungen!
 
Emotionales Aufbegehren ja, aber auch aktiver Widerstand?
Mascha Kaléko – auch sie eine Dichterin der Hesselschen Sammlung – bringt es auf den Punkt:
 
„Man trabt so traurig mit in diesem Trott.
 Die anderen aber finden, daß man müßte …“
 
Die Inszenierung läßt nicht nur in zahlreichen Rezitationen (in deutscher, englischer und französischer Sprache) die Kraft poetischer Texte spüren, sie beschwört nicht nur ihre Wirkung in dunklen Stunden, nein, sie zeigt auch die Schwäche, Ratlosigkeit und Hilflosigkeit des Menschen in Zeiten großer Herausforderungen. Die meisten von uns sind eben keine Helden, Reformer und Vorbilder. Wir zögern, haben Einwände und drücken uns nicht selten, wenn man von uns den persönlichen Einsatz verlangt.
In der Szenenfolge „Poesie und Empörung“ gelingen zwingende Bilder, die den Zuschauer lange begleiten werden.
Etwa: Drei auf der Erde wie Würmer sich windende Gestalten lesen laut aus dem Katalog der Menschenrechte vor, die Blätter mit den Texten werden kurz darauf von der Windmaschine verweht.
Oder: ein armseliges Geschöpf verdeutlicht seine Vertriebenen-Existenz durch die kümmerliche Karton-Behausung. Die anderen Darsteller verbergen ihre Köpfe in Pappschachteln. Anteilnahme oder Abwendung vom Elend? Zwei Darsteller werden so lange in Kartons verpackt, bis sie wie erstarrte Kartonskulpturen wirken.
Anrührend, wie eine kleine Frau, die eben erst von ihrer Flucht aus der sogenannten Kinderlandverschickung des Dritten Reichs berichtet hat, über die Bühne trippelt. Da ihre Füße durch Frostbeulen verunstaltet waren, hatte ihr die Mutter Schuhe des Vaters mitgebracht, und da gelang die Flucht. Aus den Trippelschritten werden plötzlich anmutige Tanzfiguren: Kindheitsassoziationen …
 
Eindrucksvoll auch, wie einer der sieben Darsteller (ein Profi, sechs sind Laien!) minutenlang steht und ins Leere starrt, dann zusammensinkt und hinausgetragen wird!
Die Konzeption der Regie hält diese scheinbar disparaten Bilder zusammen und läßt einen inneren Zusammenhang erkennen. Freilich darf man nicht eine einzige Botschaft erwarten. Zu gebrochen sind menschliche Bemühungen im Aufbegehren und im Widerstand. Immer wieder die Zweifel und oft die Resignation!
„Gehalten“ wird die Szenenfolge insbesondere durch die Lebensgeschichte des Stéphane Hessel, die der einzige professionelle Darsteller, Andreas Ladwig, mit stets wacher Präsenz einstreut. Er vermittelt auch im Wort und Auftreten die Nähe des Autors Hessel.
Die Choreographie versteht es, eine permanente Lebendigkeit in die Szenenfolge zu bringen. Erstaunlich, wie die Laiendarsteller bei Hintergrundmusik im aktiven Zusammenspiel mit Mimik, Gestik und Tanzschritten eine geradezu professionelle Leistung erbringen!
Selbst die Requisiten „spielen mit“. Stühle, z.T. zerbrochen, werden mit langen Besen als Sperrmüll zusammengeschoben oder als kämpferisches Gerümpel zu Barrikaden aufgetürmt.
 
„Poesie und Empörung“ spricht uns an, denn es geht uns an. Diese Szenenfolge vermittelt mehr Einsichten und regt mehr zu nachhaltiger Nachdenklichkeit an als manches zeitgenössische Theaterstück.
Zum Schluß die sorgenvoll-ratlose Frage der ältesten Darstellerin:
           
„Und Morgen und Morgen und Morgen und …“
 
Ein Zitat aus Macbeth von William Shakespeare. Am Ende: „ … und es bedeutet: nichts.“
 
Apropos „Morgen“! „Poesie und Empörung“ wurde viermal in Münster aufgeführt – am 5., 7., 8. und 9. März. Der Zuspruch war groß, die Anerkennung stark.
Aber sollte man nicht auch anderswo diese Szenenfolge zeigen? Ich finde, das stände z.B. einer Stadt wie Wuppertal, in der noch der Geist von Pina Bausch weht, gut zu Gesicht!

Joachim Klinger