Die Geschichte des Lebens – und einer fatalen Liebe

S. Corinna Bille – „Theoda“

von Sabine Kaufmann

Die Geschichte des Lebens –
und einer fatalen Liebe
 
Marceline Romyr wächst in der Mitte des 19. Jahrhunderts als achtes von elf Geschwistern als Tochter einer hart arbeitenden und karg lebenden Bauernfamilie in den von den Bewohnern im Jahreszeitwechsel benutzten Weilern Terroua und den drei Pragnins in den Waliser Bergen auf. Die Schönheit und die Unerbittlichkeit der Natur bestimmen im stetigen Lebensrhythmus die bäuerliche Arbeit mit Aussaat, Ernte, Weinlese, Vieh und Überwinterung, und der katholische Glaube mit seinen ehernen Gesetzen und lebendigen Festen ist der geistige Boden, auf nach streng eingehaltener Tradition das geistige Leben geregelt ist. Nicht nur die Berge begrenzen in jeder Hinsicht den Horizont, der nur wenigen überwindbar und den schon eine Heirat außerhalb der Dorfgemeinschaft sprengt. Wer da hinein heiratet, wie die aus einem Nachbardorf stammende Theoda Rovigne, die von Marcelines Bruder Barnabé heimgeführt wird, bleibt ein Fremde.
 
Theoda, deren Schultertuch beim Kirchgang prächtiger ist als die der anderen Bäuerinnen, die mehr Bänder an ihrem Hut trägt als alle anderen und deren Gang und Haltung immer so aussieht, als gehe sie „an ein Fest“ wird mit Mißtrauen beobachtet, zumal, als der Verdacht aufkommt, sie setze Barnabé Hörner auf. Daß sie es tatsächlich tut, erlebt Marceline, noch ein Kind, eines Tages ohne recht zu wissen was da geschieht, als sie im Wald ungewollt Zeugin eines Liebesaktes wird: „Es waren nicht mehr ein Mann und eine Frau, es war ein neues Wesen: Remi und Theoda“. Doch auch ohne aufgeklärtes Wissen ist Marceline klar, daß dort etwas Ungeheuerliches geschehen ist. Sie trägt fortan ein Geheimnis, das sie quält und bedrückt. Aber sie ist von der mentalen Kraft der Schwägerin auch angezogen, die sie bei einer Typhus-Erkrankung gesundpflegt, ihr Liebe schenkt. Ein fürchterlicher Konflikt schüttelt das Kind.
Es dauert nicht lange, bis der Ehebruch in der Dorfgemeinschaft die Runde gemacht hat, die stolze und starke Theoda gebrandmarkt ist und Barnabé trotz allem diesen „Verdacht“ von sich weist. Er will nicht verlieren - sie nicht und nicht sein Gesicht. Als er eines Tages von der ländlichen Arbeit in Pragnin nicht zurückkehrt, auf Dauer ausbleibt, kommt schnell ein Gerücht auf, das bald zur Gewißheit wird: Barnabé ist von Remi, seinem Freund Marcien und der Geliebten Theoda umgebracht worden. Das Mädchen Marceline wird den letzten Gang der drei zum Tod Verurteilten sehen, erleben, wie sie unter dem Schwert des Scharfrichters sterben. Ihre Kindheit endet mit dem Tod der stolzen Theoda.  
 
S. Corinna Bille (1912-1979) hat diesen Roman bereits vor siebzig Jahren veröffentlicht und dabei zu einer atemberaubend intensiven Sprache gefunden. Kraftvoll, präzise, zugleich von tiefer Poesie beschreibt sie die Kindheit eines Mädchens in der Abgeschlossenheit der Schweizer Berge, ihre Gedankengänge und den schließlichen Sturz aus der Kindheit in das erbarmungslose Leben. Sitten, Gebräuche, Lebensauffassungen und der ewige Kreislauf der Natur waren der Autorin aus nächster Nähe bekannt – so konnte ein in seiner Art einzigartiger Stoff glaubhaft zum Leben gebracht werden.
Was sie beschreibt, wird sichtbar, fühlbar, ja riechbar wie Schweiß, Leder und Erde. Detailreich bis in die kleinste Naturbeobachtung, erschreckend beim Blick in die Tiefen und die Unergründbarkeit menschlicher Seelen, bedrängend in der nüchternen Beschreibung des einer starren Kultur Ausgeliefertseins, fesselt dieses Buch, das mit allem Recht als eines der besten Werke der Schweizer Literatur gilt. Gabriele Zehnder hat mit ihrer Neu-Übersetzung ins Deutsche Hervorragendes geleistet. „Theoda“ bekommt aus vollem Herzen unsere Auszeichnung: den Musenkuß.
 
 
S. Corinna Bille – „Theoda“ - Roman
Aus dem Französischen neu übersetzt von Gabriela Zehnder
© 2014 Rotpunkt Verlag, 198 Seiten, gebunden, Lesebändchen – ISBN 978-3-85869-585-7
19,90 € / 25,- sFr
 
Weitere Informationen:  www.rotpunktverlag.ch