Ein negativ-feindliches Element

Tragisches, Komisches und Lächerliches am Ende des Realsozialismus

von Jürgen Koller


Ein negativ-feindliches Element
 
Tragisches, Komisches und Lächerliches
am Ende des Realsozialismus
 
Von Jürgen Koller
 
Keine antike griechische Tragödie ist so eng mit Momenten des Komischen und Lächerlichen verflochten wie der Untergang der DDR. Der sozialistische Staat, der sich jahrzehntelang nach Westen hin mit einem Todesstreifen voller Minen, Stacheldraht und Selbstschußanlagen abschottete, der jeden Fluchtversuch seiner Bürger mit Waffengewalt unterbunden hatte, verschwand letztendlich - nach wochenlangen friedlichen Massen-Demonstrationen politisch angeschlagen und geschwächt - in der Folge eines falsch interpretierten regierungsoffiziellen Pressebulletins von der Bildfläche. Vierzig Jahre lang war diese DDR für die große Mehrheit der 17 Millionen Ost-Deutschen eine fortwährende Tragödie mit all den Enteignungen, Zwangskollektivierungen, Studienverboten, Nicht-Gewährung bürgerlicher Grundrechte und Freiheiten, mit der planwirtschaftlichen Ineffizienz, den ewigen Versorgungslücken und der grauen Lebenstristes u.v.a.. Und dann, völlig unverhofft, im Herbst 1989 verabschiedete sich dieser Staat mit einem geradezu burlesk-komisch anmutenden Treppenhauswitz aus der europäischen Geschichte. Das aber hatte die tragische Konsequenz des Wegbrechens ganzer Industriezweige, verbunden mit dem Verlust zehntausender Arbeitsplätze.
 
Als vor fünfundzwanzig Jahren mit diesem versehentlichen Öffnen der Berliner Mauer der Anfang vom Ende des Real-Sozialismus im Osten Deutschlands eingeläutet wurde, begann zeitgleich der stalinistische Machtapparat des „Ministeriums für Staatssicherheit“ zu implodieren. Zurück blieben ganze Heerscharen hauptamtlicher Stasi-Leute, über 100.000 Spitzel, sprich „IM = Inoffizielle Mitarbeiter“, viele Kilometer preußisch korrekt geführter Aktenbände und zigtausende Säcke zerschnipselter Akten.


Bis 1989 Stasizentrale, heute Karl Schmidt-Rottluff-Gymnasium in Chemnitz  - Foto © Margot Koller
 
Und um eine dieser Stasi-Akten soll es hier im Weiteren gehen. Als unser Akteur Johannes Colmar*) Mitte der Neunziger beim „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“, bekannt als „Gauck-Behörde“, erstmalig in seine von der Stasi über Jahrzehnte geführte Akte sah, verschlug es ihm die Sprache. Es war wie der Sturz in einen Höllenschlund. Johannes C. blickte in einen finsteren Abgrund von Verrat und Unmoral. Er war erschüttert und erschrocken zugleich – zum einem war er wütend über die feigen, hinterhältigen Denunzianten, zum anderen erfüllte ihn unbändiger Zorn über jede Seite dieser Spitzelberichte, die nur so vor Lug und Trug, gepaart mit verschlagener Dummheit, strotzten. Besonders erschüttert war er vom Verrat seines lebenslangen Freundes, dem er seit Kindesbeinen an verbunden war und der sich im Nachhinein als ganz übler Drei-Groschen-Junge entpuppt hatte. Schon beim ersten Lesen seiner Akte, die von der Stasi in echt deutscher Manier mit Akkuratesse geführt worden war, stellte sich ihm die Frage: Warum haben sich diese Menschen als IM mit einer handschriftlichen Verpflichtungserklärung per Unterschrift anheuern lassen? Warum taten sie das? War es Eigennutz, war es Wichtigtuerei, finanzieller oder beruflicher Vorteil, war es das Hoffen auf gesellschaftlichen Aufstieg? Warum haben sie sich dem Teufel verkauft? Einer der Hauptgründe scheint mit einiger Gewißheit gewesen zu sein, daß diese Stasi-Spitzel aus niederer Gesinnung heraus Macht über andere ausüben konnten und der Annahme bzw. der festen Überzeugung waren, daß diese Bespitzelungen von Ehepartnern, eigenen Kindern, Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen niemals öffentlich werden würden. Diese IM fühlten sich beim Geheimapparat der Stasi absolut sicher. Aus edler kommunistischer Gesinnung haben die wenigsten konspirativ für die Stasi gearbeitet. In selteneren Fällen soll es seitens der Stasi erpresserische Anwerbeversuche mit der Androhung der Zerstörung von Erwerbsbiografien gegeben haben.
 
Im Sommer 1985 hatte der Kunsthistoriker Johannes C. gemeinsam mit seiner Ehefrau und seiner erwachsenen Tochter „im Einklang mit dem Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR vom 20. Februar 1967, § 10, das Ersuchen zur Verlegung des Wohnsitzes in die Bundesrepublik Deutschland“ gestellt und „um Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“ gebeten. In der Begründung schrieben Johannes C. und seine Familie unter anderem, „daß (wir) nach reiflichen Überlegungen zu der Einsicht gelangt (sind), daß der Sachverhalt der nicht in vollem Umfang gewährten Grundrechte, wie das Recht auf freie Reisemöglichkeiten und das Recht auf freie, ungehinderte und allseitige politische und fachliche Informationen sowie das Recht zur Kommunikation mit Verwandten und Bekannten im NSW (= Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet), für uns unerträglich geworden ist.“ In dem Antrag verwies Johannes C. dann noch darauf, daß auf Grund fehlender Reisemöglichkeiten ein Defizit an aktuellen Gesellschafts-, Kultur- und Kunstinformationen die berufliche Entwicklung auf nicht mehr zu akzeptierende Weise einschränken würde. Ergänzt wurde das noch mit dem Hinweis auf die fortwährende Unterdrückung jeglicher Kritik an systemimmanenten Problemen der gesellschaftlichen Realität, bei gleichzeitigen, sich ständig mehrenden Eingriffen in die kulturpublizistischen Bemühungen des Antragstellers.
Schon während verschiedener Kultur-Praktika in Vorbereitung auf ein Studium wurden der Tochter von C. zwangsweise alle Meinungsaustauschmöglichkeiten und Informationskontakte mit Verwandten und Freunden im Westen verboten. Das war mit schweren Bedrängnissen und demütigenden Verdächtigungen seitens der Stasi verbunden. Zusammenfassend verwiesen die drei Ausreiseantragsteller darauf, daß die gewollte Isolation der DDR-Bürger keine individuellen Spielräume zur Selbstverwirklichung zulassen würde.

 
Mit dieser Antragstellung war Johannes C., wie aus seiner Stasi-Akte ersichtlich, endgültig „ein negativ-feindliches Element“ geworden, das unter „operative Kontrolle“ gestellt wurde, hatte er doch mit der präzisen Zitierung der gesetzlichen Bestimmungen zur Ausreise und der sorgfältigen inhaltlichen und sprachlichen Ausformulierung des Antragstextes bewußt jeglichen Ansatz auf eine strafrechtlich relevante Staatsverleumdung vermieden. Und so wurde das Wohnhaus von C. beidseitig von einer konspirativen Wohnung und von einem Dachreiter-Türmchen einer Gaststätte aus von morgens 6.00 Uhr bis zum Einbruch der nächtlichen Dunkelheit beobachtet. In der Zielstellung des Beobachtungsberichts, den die umtriebigen Stasi-Männer abfaßten, heißt es: „Mit der Aufgabenstellung der Dokumentation des C. sowie seiner Kontaktpersonen, des weiteren der Feststellung von Anlaufstellen sowie der Verhinderung von Demonstrativhandlungen durch den C. wurde mit der Beobachtung am 23.7.1985, 11.30 Uhr begonnen“, also sofort nach Posteingang des eingeschriebenen Ausreiseantrags bei der städtischen Behörde. Daran wurde die enge Verflechtung von staatlich-kommunalen Stellen und Stasi deutlich. In dem Bericht finden sich solch bedeutende Auskundschaftungen wie „C. sitzt auf dem Balkon und schreibt etwas, daneben eine Flasche Bier.“ Oder „die Tochter putzt ein Fenster zur Straßenseite hin, unterbricht die Hausarbeit, geht in die Wohnung, kommt zurück und putzt weiter.“ „Der C. und seine Frau gehen mit Einkaufsbeuteln in die Kaufhalle, es handelt sich um Leergut“ usw. usf...alles präzise mit Uhrzeit. Mag das alles lächerlich klingen, aber die unmißverständliche Drohung, die schon bei einer ersten Einbestellung der Familie C. zur Behörde im Beisein von Stasi-Offizieren ausgesprochen wurde, daß jegliche Versuche einer Kontaktaufnahme mit der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin mit einer sofortigen „Zuführung bei den zuständigen Organen“, sprich Verhaftung, geahndet würde, entbehrte dann schon jeglicher Komik.
C., der beruflich beim Verband Bildender Künstler in K. tätig war, wurde sofort von seiner Funktion entbunden, ebenso wurden die Ehefrau und die Tochter umgehend arbeitslos, obwohl die Antragstellung auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft lt. DDR-Gesetz von 1967 kein ungesetzlicher Akt war, aber welcher Arbeitsrichter in der DDR wäre wohl gegen die allmächtige Stasi aufgetreten?

 
Interessant ist, wer alles Johannes C. bespitzelt hatte. Neben Kulturfunktionären und Kommunalpolitikern unterer Chargen waren es Kunstwissenschaftler und renommierte Künstler überwiegend aus dem Bereich Grafik-Design, mit denen er sehr oft beruflichen Kontakt hatte. Diese Grafiker arbeiteten mit der DEWAG, dem einzigen Werbebetrieb der DDR, zusammen, der im Besitz der SED war. Die Entschlüsselung der IM-Tarnnamen und die Zuordnung zu den entsprechenden Klar-Namen war für Johannes C. relativ einfach, konnte er sich doch an Ereignisse, an gewisse Situationen oder besondere Anlässe mit den entsprechenden Personen noch Jahre später erinnern. Übrigens hatte die Gauck-Behörde großes Interesse an dieser Zuordnung der Spitzel-Namen zu den Klar-Namen, da diese IM ja viele Künstler und andere Bürger bespitzelt hatten.
Bei allen traurigen Momenten des Gesamtgeschehens stimmt doch heiter, wie Johannes C. und seine Familie mit ihrem Ausreiseantrag die Bezirks-Stasi in K. und die Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße über viele Wochen in einen regen Dienstbriefverkehr mit Befürwortungen, zeitweiligen Ablehnungen, Zurückstellungen und letztlich doch wieder befürwortender Zustimmung zwischen all den Stasi-Obersten und Generälen mit ihren silbernen und goldenen Lametta-Raupen auf Trab hielt. Auch die Stasi-Generalität wurde ab und an Opfer der eigenen Konspiration, so im Fall der angeblichen Kontaktaufnahme des Johannes C. mit Kultur-Attaché Girardet der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin. Da hatte sich die „zuverlässige IM-Quelle“ schlichtweg eine hübsche Story erfunden, denn C. hat den Herrn aus Bonn weder persönlich gekannt, noch wollte bzw. hatte er mit diesem Verbindung aufgenommen. (Siehe Repro vom 8.8.85 - oben)


Das Tauschobjekt - Gemaelde von F.D.
 
Zum guten Schluß noch zwei lächerlich-groteske Episoden, die die ganze Schizophrenie des Stasi-Regimes erhellen: Ein befreundeter Kunstmaler, Besitzer eines PKW Wartburg, unterstützte Johannes C. bei Fahrten zu Behörden und Dienststellen, damit dieser seine Angelegenheiten der Übersiedlung klären konnte. Das Ehepaar C. besaß damals einen fabrikneuen Kühlschrank aus der einzigen Kühlschrankfabrik der DDR in Scharfenstein / Erzgebirge. Dafür interessierte sich der Malerfreund F.D., da er selbst erst in Monaten ein solches Kühlgerät laut Warteliste erhalten sollte. Johannes C. schlug deshalb einen Tausch vor – Kühlschrank gegen ein Ölgemälde. Gesagt , getan – aus heutiger Sicht ein wahrlich gutes Geschäft, denn der besagte Kühlschrank ist längst schon beim Schrott, aber das Stilleben erfreut seine Besitzer seit nunmehr fast dreißig Jahren, von der Wertsteigerung ganz zu schweigen. Das Gemälde ist, wie im Repro zu sehen, im Duktus von Giorgio Morandi gehalten, denn der Maler hatte sich zeitweilig dem Italiener genähert. Das sehr malerische, farblich zurückgenommene Stilleben wurde Jahre später in NRW in einer Retrospektive des Künstlers gezeigt und hätte sofort aus der Ausstellung heraus verkauft werden können, aber das Bild sollte Teil der Lebensgeschichte des Ehepaares C. bleiben.
Auch dieser legitime Tausch zwischen Freunden war von geheimdienstlichem Interesse für die Stasi. (Repros: Dokumente vom 31. 7. und 2. 9. 1985). Spitzel im Wohnhaus von C. müssen den Abtransport des Kühlschranks beobachtet haben. Auch in der Stasi-Akte des Malers F.D. ist der Tausch ausführlich dokumentiert worden. So wurde ein harmloses Flaschen-Stillleben, frei nach Friedrich Schiller, in der Inszenierung der Stasi-Oberen zu einer „negativ-feindlichen“ Haupt- und Staatsaktion.
Ein weiterer Moment heiterer Komik ist der Spitzelbericht von IMB Karl Ruprecht. Ein IMB ist übrigens ein Informant, der sich unmittelbar im Umfeld von „negativ-feindlichen Elementen“ bewegt, In diesem Falle waren Künstler, Kunstfreunde und -sammler Ziel seiner Ausspähungen. Der Spitzel meldete seinem Führungsoffizier, daß die Ehefrau „westvernarrt“ sei, nur sie könne „hinter dem Antrag auf Ausreise stecken“. Sie „spiele die feine Dame“. An anderer Stelle wird darauf verwiesen, daß die Ehefrau „Westklamotten“ trage – ein besonders treffender Witz: Wegen der latenten Tristesse der Ost-Mode hatte sich C.'s Ehefrau als Frau vom Fach alles selbst geschneidert, eingeschmuggelte Burda-Modezeitschriften dienten als Vorlage.
 
Schon beim ersten Gespräch mit einem Vertreter der Bezirksbehörde und der Stasi erfuhr Familie C., daß ihrem Ausreiseersuchen innerhalb einer Woche stattgegeben würde. Die drei Antragsteller waren damals verblüfft und sprachlos erstaunt. Das Ausreise-Procedere sollte sich dann zwar doch noch über drei Monate hinziehen, aber es war kein Vergleich zu den jahrelangen Wartezeiten, Demütigungen und Anfeindungen, die viele andere Ausreiseantragsteller erleiden mußten. Warum sollte alles bei Johannes C. und seiner Familie so schnell gehen? Aus der Stasi- Akte und dem dazugehörigen Schriftwechsel der Bezirks-Stasi und der Zentrale in Ost-Berlin ist ersichtlich, daß die Stasi in K. darauf drängte, den C. so schnell wie möglich los zu werden, damit jegliche Solidaritätsbekundungen und „Demonstrativhandlungen“ seitens der Künstlerschaft in K., in welcher Form auch immer, unterbunden würden. Einer der von den IM eingeholten Kommentare zum Ausreiseantrag von C. lautete lakonisch: „Da haben die da oben einen schönen Sommerloch-Füller“. Und wenn das Ehepaar jetzt seine alte Heimat im Sächsischen besucht und am ehemaligen Grenzübergang Herleshausen vorbeifährt, fragt es sich: „Wo sind all die Stasi-Leute und IM-Spitzel abgeblieben?“
 
*) Der Redaktion ist der Original-Name von Johannes C. bekannt.

Redaktion: Frank Becker