Gesine Schwan zur Position Rußlands in der Ukraine-Krise

Ein Interview-Beitrag

vom Wirtschaftsbund Hanse

Gesine Schwan
zur Position Rußlands
in der Ukraine-Krise:

„Ich sehe nicht, daß es für
das Vorgehen Rußlands
berechtigende Gründe gibt.“
 
Herford, 19. Mai 2014: Die ehemalige deutsche Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan hält Putins Verhalten in der Ukraine für einen Versuch, von den wirtschaftlichen Problemen Rußlands abzulenken, sagte sie dem Magazin „Eldermann“ in einem Interview.
 
Eldermann: Konflikte wie zwischen Rußland und der Ukraine hatte man eigentlich schon für überwunden geglaubt, schon weil wirtschaftliche Verflechtungen das hätten verhindern sollen. Trotzdem geht es um Machtpolitik. Können Sie Rußland da verstehen?
Gesine Schwan: Ich sehe nicht, daß es für das Vorgehen Rußlands berechtigende Gründe gibt. Allerdings muß langfristig gedachte internationale Politik immer mit allem rechnen, auch mit Partnern oder Kontrahenten, die nicht nach dem eigenen Wertesystem funktionieren. Dann ist es notwendig, sich hypothetisch auf den Boden dieses anderen Wertesystems zu stellen um einzuschätzen, was die Kontrahenten motiviert und welche Strategien sie verfolgen. Nicht, weil man es akzeptiert, sondern weil man von dieser Warte aus Handlungen besser einschätzen kann.
Eldermann: Ist es so, daß Rußland ein komplett anderes Wertesystem hat?
Schwan: Putin ist ja nicht mit Rußland identisch. Rußland ist eine pluralistische Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Positionen. Es gab ja Demonstrationen gegen die Krim-Politik Putins auch in Moskau. Aber mein Eindruck ist, daß Putin von den bestehenden wirtschaftlichen Problemen Rußlands durch eine vaterlandsbekräftigende Außenpolitik ablenken möchte. Das Wirtschaftswachstum liegt nicht bei vier bis fünf Prozent wie erwartet, sondern bei einem Prozent und die russische Volkswirtschaft droht in eine Rezession abzugleiten. In dieser Situation versucht Putin eine klassische Volte, nämlich durch eine möglicherweise auch kriegerische Politik abzulenken von den wirtschaftlichen Problemen im Inneren. Für dieses Verhalten braucht ein Land nicht ein ganz anderes Wertesystem zu haben, das glaube ich von Rußland auch nicht. Solches Verhalten erleben wir auch anderswo, auch im demokratischen Kontext, immer wieder einmal.
Eldermann: Also bestimmen die Interessen eines Einzelnen das Schicksal der Ukraine?
Schwan: Zum Teil – und das ist naheliegend: Die Menschen wollen an der Macht bleiben, das passiert auch in anderen Ländern. Und auch wenn man selbst internationale Politik im Sinne des eigenen Wertesystems betreiben und dabei auch noch vertrauenswürdig bleiben will, muß man trotzdem immer damit rechnen, daß andere nicht nach ihren eigenen Werten handeln.
Eldermann: Wie weit ist es denn noch her mit dem Vertrauen in Rußland beziehungsweise die jetzige Führung, etwa in Polen oder den baltischen Staaten?
Schwan: Daß gerade die nächsten Nachbarn das Gefühl eines Déjà-vu haben, liegt ja nahe. Selbst wenn die handelnden Minister das nicht ganz so sähen, müssten sie doch auf ihre Gesellschaften Rücksicht nehmen, die das so wahrnehmen. Das Verhalten der Regierenden richtet sich immer auch danach, was ihre Wähler denken.
 
Hintergrund: „Eldermann“, das Magazin der Wirtschaftshanse
Im Mai 2014 ist die erste Ausgabe des deutsch-englischen Magazins „Eldermann“ erschienen, das von der Wirtschaftshanse halbjährlich herausgegeben wird.
Die Wirtschaftshanse ist ein europaweites Netzwerk für Unternehmer und Unternehmen, in dem die traditionellen Werte der ehrbaren Kaufleute wiederbelebt werden: Qualität, Vertrauen und Fairness in den Geschäftsbeziehungen. Das Ziel ist das gleiche wie schon vor Jahrhunderten: Durch Vertrauen und klare Regeln soll der internationale Handel gefördert werden. Durch die Verbindung aus Kommunen und Wirtschaftsförderung, Unternehmen und Finanzinstituten wächst eine starke Organisation heran, die die Wirtschaft in den 181 Hansestädten in 16 Ländern Europas verbinden will.
 
Gesine Schwan, 71, ist deutsche Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin. Davor war sie von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin. Sie ist Mitglied des Kuratoriums der deutsch-polnischen Wissenschaftsstiftung und mit Unterbrechungen seit 1977 Mitglied der Grundwertekommission.