Der Mann, der nicht da war

Donna Leon - „Das goldene Ei“

von Frank Becker

Der Mann, der nicht da war
 
Ein scheinbar alltäglicher Fall, der eigentlich gar kein Fall ist und keine Ermittlungen erfordert: ein taubstummer Mann um die 40, Davide Cavanella, in der Nachbarschaft als geistig behindert aber harmlos bekannt, stirbt an einer Überdosis verschiedener Schmerz- und Schlafmittel. Er hat sie wohl für Bonbons gehalten. Nichts macht diesen tragischen Vorfall verdächtig – bis Commissario Guido Brunetti eher zufällig darauf stößt, daß es diesen Mann im Grunde gar nicht gab, will sagen: es gibt keinerlei amtliche Unterlagen über ihn, er war nicht gemeldet, nicht versichert, in kein Geburtsregister eingetragen, hatte keine Krankenakte und keine Unterlagen beim Sozial- und Schulamt, ist nie in irgend einer Polizei- oder Gerichtsakte aufgetaucht. Als er nachhakt, stößt Brunetti in der Umgebung des Toten auf Ablehnung und eine Mauer des Schweigens.
Wer unseren Commissario kennt, weiß, daß er nun umso intensiver in diesen Fall, der keiner ist, einsteigen wird. Es ist vor allem das Entsetzen darüber, wie ein Mensch völlig der Fürsorge des Staates entzogen werden konnte, die er sicher gebraucht hätte. Brunetti verbeißt sich in die Sache und entdeckt die Spuren eines Verbrechens, wie es seelisch grausamer an einem Menschen, einem Kind kaum verübt werden kann. Und es kristallisiert sich Zug um Zug heraus, daß der Tod Cavanellas wohl doch kein Unfall war…
 
In einer Nebenhandlung löst Brunetti en passant und elegant ein delikates Problem möglicher Korruption in Kreisen der Gewerbepolizei, das den Bürgermeister vor seiner Wiederwahl hätte belasten können was ihm das Wohlwollen (und eine Gefälligkeit) seines Vorgesetzten Patta einbringt. Eine Hand wäscht in Venedig die andere. In soweit kann sich Brunetti den Gepflogenheiten anpassen, solange sie nicht ins Kriminelle abgleiten. In einem weiteren Nebenstrang führt Donna Leon erneut Brunettis Kollegin Claudia Griffoni ein, die für den zweiten Teil des fesselnden Romans anstelle des Inspektors Vianello in die Ermittlungen eintritt. Das ist allerdings ein spürbar gewolltes Konstrukt Donna Leons, ein bißchen herbeigebogen wirkend – und noch ein bißchen aufgesetzter wirkt die Verschwisterung Griffonis mit Signorina Elettra. Hier bereitet Donna Leon wohl das Feld für spätere Fälle.
 
 „Das goldene Ei“ ist ein leiser Roman, doch er zieht den Leser sehr schnell in den Bann der Geheimnisse, die er auflösen soll. Er ist äußerst gut lesbar, ja fesselnd, in der Kernhandlung gut konstruiert und mit seinen Wendungen immer wieder spannend. Brunettis Familienleben spielt erneut eine wesentliche Rolle, ja gibt dem Ablauf ein solides Gerüst, eines wie es Donna Leon damit auch ihrem Protagonisten anmißt, damit er nach all dem Schmutz von Straße, Politik, Korruption und Verbrechen in einen sicheren Hafen einlaufen kann. Von Roman zu Roman scheint Donna Leon ihren humanistisch gebildeten Brunetti immer mehr zum introvertierten Philosophen werden lassen, der seine Familie und im Dienst Freunde wie Vianello, Pucetti und Griffoni braucht, um nicht zum Misanthropen zu werden.
 
Donna Leon -  „Das goldene Ei“
Commissario Brunettis zweiundzwanzigster Fall
Aus dem amerikanischen Englisch deutsch von Werner Schmitz
© 2014 Diogenes Verlag, 313 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag  -  ISBN 978-3-257-06891-7
22,90 € / 32,90 sFr
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch