Spiegelfechtereien

von Erwin Grosche

Foto © Klaus Schwartze
Spiegelfechtereien
 
Ich war überrascht, wie deutlich mein Spiegelbild die Gesamtsituation erfaßte. Ich saß vor ihm und schrieb einen Brief. Ich wählte im Spiegel eine andere Schrift, als wollte ich etwas verschlüsseln, das nur für diese andere Welt bestimmt war. Selbst ich konnte diesen Brief nicht entziffern und hoffte, daß er nur eine Übersetzung meines Briefes war, den ich nun vor diesem Spiegel zu schreiben im Gange war. Man sagt manchmal, daß die Wirklichkeit im Spiegel abgebildet wird. Ich spürte aber ganz genau, daß der dort im Spiegel, der so aussah wie ich, mich und meine Handlungen nicht abbildete, sondern immer erst einen Augenblick abwartete, bevor er mich arrogant nachäffte. Verstehen Sie, er tat mir alles nach, aber stets einen Lidschlag später und immer auch interpretierend. Es war offensichtlich: Der dort im Spiegel wartete mich ab und verschaffte sich dadurch Vorteile. Ach, wie gerne würde ich gerade das tun, was er tut, und stur seine Handlungen so zurückführen, wie ich sie mal gemeint hatte. Pech gehabt. Ich bin das Original, ich stehe am Abgrund, er ist der Abgrund. Was soll ich nur machen? Mein Spiegelbild dokumentiert nicht meine Vorgabe, sondern stellt sie bloß. Auf der Flucht vor der Wirklichkeit braucht man besonders die Wirklichkeit. Wir brauchen das Opfer eines Originals, um selbst Kopie sein zu dürfen. Wir brauchen die Wahrheit, um lügen zu können. Das Gute ist immer der Anfang vom Betrug. Wenn ich den Spiegel mit einem schwarzen Tuch abdecken würde, dann könnte ich mich endlich mal in Ruhe vor ihm rasieren. Aua. Ein Spiegel im Dunkeln ist eine traurige Projektionsfläche. Das, was niemand sehen kann, spiegelt er auch wieder, aber dann in schwarzweiß. Ich habe mal im Dunkeln vor einem Spiegel geküßt und fühlte mich trotzdem beobachtet. Ich hätte gerne meine Haltung korrigiert, aber machen Sie das mal ohne Kontrollmöglichkeiten. In Fernsehkrimis gibt es immer diese Spiegel, hinter denen einer unerkannt steht und den Schuldigen beobachtet, ohne seine Handlungen nachzuahmen. Ich habe den Verdacht, daß wir zu Hause auch so einen Spiegel haben. Immer, wenn ich mir nicht drei Minuten die Zähne vor unserem Spiegel putze, habe ich das Gefühl, daß meine Frau mich nicht so gerne küßt. Natürlich sind auch ihre Augen ein Spiegel ihrer Seele, aber ich habe auch dort das Gefühl, daß noch jemand dahinter unerkannt steht und mich aus allen Bewerbern, die um ihre Liebe buhlten, ausgewählt hat.  
 
 
 
© 2014 Erwin Grosche
Illustration © Klaus Schwartze

Redaktion: Frank Becker