Cherchez la femme

Sempé: "Monsieur Lambert"

von Frank Becker
Cherchez la femme!

Bei Mme. Lucienne, die mit Engelsgeduld und Freundlichkeit ihre Gäste in dem - typisch für Sempé - zwischen wuchtigen Bauten eingeklemmten kleinen Restaurant "Chez Picard" bedient, kehren um die Mittagszeit die Stammgäste ein. Herren, welche die Pause nutzen, um bei einem Tagesgericht und einem Gläschen Roten über Politik und Fußball, Büro-Klatsch und Wirtschaft zu plaudern. Eine Oase im täglichen Getriebe. Es geht familiär zu, man kennt und grüßt sich, die Gesellschaften haben ihre angestammten Tische und Plätze und ihre festen Riten. Monsieur Cazenave ißt immer zu schnell, findet Mme. Lucienne, aber er hat keine Zeit, liest beim Essen die Zeitung, ein Buch oder ein Aktenstück, schwitzt förmlich Eile aus. Die anderen genießen die Stunde der Recréation und die eigentlich belanglosen Gespräche.

Bis eines Tages Monsieur Lambert, der jüngste am Tisch ganz rechts, nicht wie gewohnt pünktlich bei Tisch erscheint. Man wird aufmerksam, besonders, als sich das wiederholt, er gar mitunter ganz wegbleibt. Und wenn er da ist, ist er zugleich abwesend. Für eine derart eingeschworene Tischgemeinschaft ein nahezu unerhörtes Ereignis. Die Unterhaltungen nehmen eine Wende. Als er sich schließlich erklärt, bekennt, daß er einer wunderbaren Frau wegen die gewohnte Mittagsstunde vernachlässigt, ist das wie eine Revolution der Tischgespräche. Lamberts Affaire ruft bei den anderen Herrn Erinnerungen wach, läßt sie schwärmen (und maßlos übertreiben), noch einmal den verblaßten Glanz der jungen Jahre spüren. Lambert wird als Don Juan gefeiert und nimmt das mit bescheidenem Stolz hin. Er ist verliebt.
Doch eines leisen Tages ist alles vorbei. Lambert sagt nichts, aber man spürt es, kehrt zurück zu Politik und Fußball... bis, ja - bis er wieder einmal nicht kommt und seinen Freunden damit neuen Anlaß zum Träumen von alten Liebesgeschichten gibt... 

Sempé hat diese zauberhafte Männer-Geschichte bereits 1973 gezeichnet und bei Diogenes veröffentlicht. Wunderbar, daß sie jetzt wieder zu haben ist. Er gehört zu den Poeten unter den Zeichnern, den wundervoll detailverliebten großen Könnern seines Genres. Jede der 48 Zeichnungen von "Monsieur Lambert" erzählt. An alles hat Sempé gedacht: seine typischen zierlichen Gläschen, den Bon-Piekser, Salz- und Pfefferstreuer, die an den Tischfuß gelehnte Aktentasche, die Katze, die mal hier, mal dort schlummert oder an den Tischen vorüberstreicht oder den dezent in den Zähnen stochernden Herrn. Vor allem aber strahlt auch dieses Buch wieder seine unerschütterliche Menschenliebe aus.
Jean-Jacques Sempé ist in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden. Ich hoffe, daß der Philanthrop mit dem Zeichenstift auch seinen 100. Geburtstag erlebt (ich mit ihm) - und uns noch lange mit seinen liebenswerten Geschichten Freude macht.

Beispielbild

Jean-Jacques Sempé
Monsieur Lambert

© 1973/2007 Diogenes Verlag

59 illustrierte Seiten, Leinen mit farbig illustriertem Schutzumschlag
18,90 €

Weitere Informationen unter:
www.diogenes.ch