Großstadtmelodie

Lili Grün – „Mädchenhimmel!“

von Frank Becker

Titelfoto: Jo Keller, 1933
Großstadtmelodie
oder
Rezepte fürs Herz
 
 
In den größten Schmerzen unseres Lebens
sind wir immer allein.
(Lili Grün)
 
Lili Grün, eine Schriftstellerin der Zeit zwischen den Weltkriegen (neu) zu entdecken, eine, deren der Neuen Sachlichkeit zuzuordnende Lyrik und Prosa auf Augenhöhe mit der Berliner Großstadtpoetin Mascha Kaléko und den Jahrhundert-Schriftstellern Peter Altenberg und Kurt Tucholsky zu lesen ist, ist mehr als aufregend. Lernt man doch in ihren Gedichten und ihrer Kurzprosa eine feinfühlige, delikate, zugleich schlichte und unmißverständliche Sprache kennen, wie sie schöner nicht ausdrücken und mitfühlen lassen könnte, was Menschen in ihrem Innersten umtreibt.
Dann aus ihrer Biographie zu erfahren, daß sie, wie so viele andere große deutsche Dichter, Künstler und Denker, die intellektuelle Elite der 30er und 40er Jahre, von den ideologisch völlig verblendeten, hirnlosen Nazis wegen ihrer Religion umgebracht worden ist, treibt einmal mehr die Tränen der Scham und Wut in die Augen.
 
Das schmale nachgelassene Œuvre der 1904 in Wien geborenen Lili Grün, die bis zur ihrem Schreibverbot 1938 in den geistigen Metropolen des deutschsprachigen Raums, in Berlin und Wien gelebt und gewirkt hat und 1942 aus Wien deportiert und ermordet wurde, muß ohne Vorbehalt als kostbar bezeichnet werden. AvivA-Verlegerin Britta Jürgs hat das von Anke Heimberg verdienstvoll edierte Werk unter ihre Fittiche genommen. Die Romane „Alles ist Jazz (Herz über Bord)“ und „Zum Theater! (Loni in der Kleinstadt)“ liegen bereits vor. Für den nun schon in zweiter Auflage gedruckten Band „Mädchenhimmel!“ hat Anke Heimberg Lyrik und Kurzprosa zusammengetragen, die in den 20er und 30er Jahren in Zeitungen und Zeitschriften wie „Prager Tagblatt“, „Prager Montagsblatt“,  „Tempo“, „Uhu“, „Der Wiener Tag“, „Simplicissimus“, „B.Z. am Mittag“ u.a.m. abgedruckt worden sind und bisher noch nicht in Buchform zu haben waren.
 
Mädchenhimmel!
 
Wenn ich auch nichts von den Dingen versteh',
Eins weiß ich genau:
Es gibt ein eigenes Paradies für die Frau.
Für uns, die wir den ganzen Tag dienen
In dunklen Büros bei den Schreibmaschinen.
 
Dort sind wir den ganzen Tag ausgeschlafen,
Und schon zum Frühstück gibt´s Sahne und Kuchen,
Und da soll mal einer versuchen, uns was zu schaffen!
Na, ich danke, der hat nichts zu lachen!
 
Und in der ewigen Seligkeit
Bekommen wir täglich ein neues Kleid.
Und jeden Abend wird ausgegangen
In einem Kleid mit richtigem Dekolleté
In ein Theater oder Konzertcafé!
Und statt der verdammten Schreibmaschine
Bekommt jede von uns eine Limousine!
 
Dort ziehen wir mit einer Jazzbandkapelle mal ein,
Und die Frau vom Chef darf nicht hinein!
Au fein!
 

Lili Grün hat wie ihre Altersgenossin Mascha Kaléko die Großstadtstraßen durchwandert, die Menschen studiert und die Kaffeehäuser besucht. Sie hat sich in die Einsamen, Betrogenen, Enttäuschten und Verlassenen hineingedacht, Sehnsucht, Alleinsein, Bitternis und den Dalles ebenso gekannt wie hastige Affären und die alltäglichen Drängnisse von kleinen Angestellten, Verkäuferinnen und Stenotypistinnen. Sie schlüpfte in deren Schicksale und beschrieb sie so zartfühlend, so bewegend, wie es eben nur eine Beschenkte kann, eine, die nicht nur hautnah sondern subkutan an all dem Fühlen und Denken teilgenommen hat.
 
Es fragt sich, ob ein wie hier mit 64 Seiten angehängter, derart ausführlicher, von Fall zu Fall zwar erhellender, gelegentlich jedoch arg belehrend wirkender Erläuterungs-Apparat zu Lili Grüns Werk notwendig ist. Wie auch immer, ich liebe das Buch, und diese Marginalie hindert mich nicht, „Mädchenhimmel!“ (einschließlich der genialen Umschlaggestaltung) mit dem Musenkuß auszuzeichnen, sowie es zum Buch des Monats zu erklären.
 
Lili Grün – „Mädchenhimmel!“
Gedichte und Geschichten, hrsg. v. Anke Heimberg
© 2014 Aviva Verlag, 124 Seiten + 64 Seiten Kommentar/Nachwort von Anke Heimberg, gebunden – ISBN 978-3-932338-58-8
18,- €
 
Weitere Informationen:  www.aviva-verlag.de