Woanders (1)

von Erwin Grosche
Woanders (1)
 
Wo bin ich denn hier gelandet? Mist, Mist, Mist, da will ich mal woanders sein, und auf dem Weg dorthin verfahr' ich mich. Ich habe mir woanders immer ganz anders vorgestellt, irgendwie anders. Ich habe mir woanders sogar immer ganz woanders vorgestellt, irgendwo woanders.
Woanders, wo was Wildes wächst, woanders, wo wer Wunder weiß. Aber ich und mein Orientierungssinn: Links ist, wo der Daumen rechts ist, und das Pi mal Daumen, natürlich um fünf Ecken gedacht, und dort liegt dann die Weltkarte, bei der ich noch nicht mal im Inhaltsverzeichnis durchsteige, geschweige denn die Alpen fände.
Woanders ist es nur so lange schön, bis man sich dort wieder so eingelebt hat, daß man sich nirgendwo mehr sehen lassen kann. Vielleicht sollte ich erwähnen, daß ich von Beruf Versicherungsvertreter bin, spezialisiert auf Wasserrohrbrüche. Es muß auch irgendwie weitergehen, selbst am Ende der Welt dreht man sich nicht einfach um und geht einfach weiter. Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, sollte man den Kopf nicht hängen lassen und schon gar nicht in Venedig. Früher sagte ich immer: Die Welt ist nicht schön, wir machen es uns zuhause schön. Heute sage ich: Etwas Besseres als das Fernsehprogramm sehen wir überall. Bis ich dann hier gelandet bin. Ach, wär' ich doch woanders. Ein starker Wille kann das. Woanders hab' ich mal Hunger gehabt, zu Hause nie, und das liegt nicht nur an der burschikosen ostwestfälischen Küche.
Natürlich sagt man, Appetit holt man sich woanders, gegessen wird zu Hause, aber heutzutage ist die Vorspeise eine ernstzunehmende Zwischenmahlzeit und manche Vorgruppen besser als die verwöhnten Stars. Woanders schmeckt mir das Essen auch besser. Wir haben zuhause den Brauch, daß der, der kocht, auch nachher spülen muß und dann die Fenster reinigt. Ich koche bei uns. Ich hob das damals in meiner Zeitungsannonce besonders hervor: Wunderschöner Koch sucht Frau zum Verwöhnen. Nun habe ich den Salat.
 
Woanders habe ich mich mal wie zuhause gefühlt, zuhause nie. Ich habe mal woanders in einem Hotelzimmer von zuhause geträumt, das war schon eine saublöde Geschichte, zumal die dann mit dem Preis nicht runtergehen wollten, aber ich schlaf doch nicht woanders, um dann dort von zuhause zu träumen. In Hamburg traf ich mal einen Portier, der sprach Ostwestfälisch, ich meine, da hätte ich auch zuhause bleiben können. Wenn es woanders wie zuhause ist, fahre ich doch nicht so weit weg und geb auch noch Trinkgeld. Mallorca ist was anderes, da ist es zwar wie zuhause, aber ich muß es nachher nicht wieder aufräumen.
Auch die Vorstellung von grenzenloser Freiheit ist davon geprägt, daß man nachher dort nicht wieder aufräumen muß.
Mist, jetzt war ich mit meinen Gedanken wieder woanders. Wenn ich woanders eine schöne Frau sehe, dann muß ich sie mir nur als meine Frau vorstellen, dann vergeht mir gleich der Wunsch, sie zu küssen.
Ich kann mir die eigenen Spezialitäten in meinem Spezialitätengeschäft auch nicht leisten, vertraute mir ein Spezialitätengeschäftsinhaber an, jetzt ißt er lieber woanders, ist ja auch viel billiger.
Ich dusche auch lieber woanders. Woanders ist das Badezimmer viel aufgeräumter als bei uns. Hab' ich auch zu meiner Mutter gesagt: „Warum kriegen wir das Badezimmer nicht so schön hin wie bei anderen Leuten?“ Weil ich es nie aufräumen würde, hat sie gesagt, nun dusche ich lieber woanders. Ich durchforste die bundesdeutschen Städte auf der Suche nach einer Dusche nach rein alphabetischen Gesichtspunkten. Letzte Woche duschte ich in Aachen, nun schon in Celle, in Duschcelle, Hauptsache woanders, Hauptsache nicht dort, wo meine Mutter ist.
 
Meine Mutter erzählte mal wieder die peinliche Geschichte, wie ich als Kind angeblich zu dem Nachbarsmädchen gesagt habe, daß ich nun Kacka machen müsse, und da hätte das Nachbarsmädchen gesagt, das Würde nicht Kacka heißen, sondern A-a. Da wäre ich lieber woanders gewesen, anstatt im Boden zu versinken, weil dort nämlich schon das Nachbarsmädchen ist, dessen Mutter diese Geschichte auch immer zum Besten gibt. Ich begrüße sie mit „Hi“, und sie sagt, das heißt nicht „Hi!“, sondern „Guten Tag“, und ich denke, super, wir verstehen uns ja wieder prächtig, aber zum Glück hat das niemand gehört und quält uns nun damit bis ans Ende unserer Tage.
Ich weiß noch, wie ich im Freibad bibbernd auf dem Drei-Meter-Sprungbrett stand und meine Mutter von unten das Ganze filmen wollte, und bei mir stand fest, ich springe nicht, ich bin zu schwer, um zu fliegen, an mir hängen Gewichte, die reißen mich in die Tiefe und lassen mich dort. Ich wollte doch noch den Nobelpreis bekommen und das nicht mit einer unsinnigen Mutprobe gefährden. Da wäre ich lieber woanders gewesen. Jetzt und für alle Zeiten dieser Welt verfüge ich für den Fall meiner Wiedergeburt, daß ich nicht dabei gefilmt werden möchte, wenn ich auf einem Drei-Meter-Brett stehe und nicht springen will, und wenn, dann filmt auch, wie ich die Stufen hinuntersteige und durch die Blicke der Mädchen gehe, die mir alle versprechen, daß sie mich nicht an sich ranlassen werden, bis ich dreißig geworden bin, und ich denke, die dreiundzwanzig Jahre kriege ich auch noch rum.
 
 
 
© Erwin Grosche
aus „Lob der Provinz“