Herz über Bord

Lili Grün – „Alles ist Jazz“

von Frank Becker

Herz über Bord
 
Eigentlich heißt dieser zauberhafte kleine Roman ja „Herz über Bord“, denn so hatte ihn seine Verfasserin Lili Grün (1904-1942) genannt und so war er 1933 im Paul Zsolnay Verlag erschienen. Die Antwort darauf, warum er für die posthume Neuausgabe Jahrzehnte später in „Alles ist Jazz“ umbenannt worden ist, liegt nach Angaben des Verlages darin, daß zwischenzeitlich ein anderer Roman im einem anderen Verlag unter nämlichem Titel erschienen ist und diesen rechtlich besetzt hält. Ein wahrer Jammer! So hat sich der AvivA Verlag schweren Herzens entschlossen, bei der notwendigen neuen Titelwahl auf ein Zitat aus dem Text zurückzugreifen. Soweit zu diesem Ärgernis, das aber auch das einzige an der schön gemachten Ausgabe des AvivA Verlages ist. Denn der Roman selbst, seine dramatis personae und seine atem- und spürbare Atmosphäre überzeugen von der ersten bis zur letzten Seite.
 
Die hübsche Schauspielanfängerin Elli, die gerne mit ihrem sehr jugendlichen Aussehen kokettiert, zieht es von der Kulturmetropole Wien ins brodelnde Leben Berlins der frühen 30er Jahre. Meist ist nicht genug zu beißen im Brotfach des ungeheizten Untermietezimmers, und allzu oft muß sie ihrer Wirtin die Miete schuldig bleiben, stets auf der Kippe zum Hinauswurf. Einzig der Geliebte Robert, ein strebsamer Student mit Prinzipien, ist ihr Anker. Ähnlich wie ihr ergeht es vielen ihrer Freunde und Kollegen, deren wesentlicher Brotbelag die Hoffnung auf Engagements und einen wirklichen Durchbruch, deren Treffpunkt das „Romanische Café“ und deren Asyl die „Lunte“ ist. Mit der Energie, die einzig der optimistischen Jugend eigen sein kann, gründet ein buntes Trüppchen trotz persönlicher Armut und dräuender Wirtschaftskrise am Kurfürstendamm das Kabaret 'Jazz'. Die Anfangserfolge lassen ein wenig Euphorie aufkommen, gemischt mit Hybris und Eifersüchteleien. Das erste selbst verdiente gute Geld ist bald verbraucht, man will ja leben. Und es gibt ja auch ein paar erfolgreiche, wohlhabende Mäzene, die sich gerne mit den Girls vom Cabaret umgeben und manches spontane Gelage finanzieren.
Lili Grün zeichnet die Charaktere ihrer Figuren um unsere Protagonistin Elli so treffsicher, daß sie unmittelbar vor dem Auge des Lesers Gestalt annehmen: die mehr oder weniger begabten, dafür aber sprühenden und lebenslustigen jungen Sängerinnen und Tänzerinnen, den intellektuellen Typ des Texters oder Komponisten, den soliden Freund unter allen, Hullo, der die Fäden zusammenhält, die Bonvivants der Branche, die ihre mediale Macht durchaus im eigenen Interesse einzusetzen wissen. Lili Grün kann die jauchzende Freude des Moments des Erfolges ebenso mitreißend und spritzig schildern wie fröhlichen Übermut, eine dem Moment geschuldete Verliebtheit, die schlaflosen, kalten Nächte von Resignation, Selbstzweifel, Angst, Kummer und Hoffnungslosigkeit, sogar den Boheme-Tod Hedwigs. Dabei behält sie stets daß Maß, versteigt sich nicht in Melodramatik und überzieht nie. Es bleibt durchweg, was es ist: ein bunter Strauß von kleinen Schicksalen in einer großen Stadt.

„Alles ist Jazz“ ist ein ganz herrlicher, atmosphärisch reicher kleiner Roman, elegant aufgelöst, der nach den hinreißenden Gedichten Lili Grüns („Mädchenhimmel“), die exemplarisch (S. 60) Eingang finden, schon Appetit auf die Lektüre ihres zweiten Romans „Zum Theater!“ macht. Es steckt sehr viel Autobiographisches darin, stattfindend an realen Orten und teils verifizierbaren Personen, was durch das lesens- und dankenswerte Nachwort von Anke Heimberg deutlich gemacht wird. Eine herzliche Empfehlung der Musenblätter.
 
Lili Grün – „Alles ist Jazz“ (Herz über Bord)
Anke Heimberg (Hg.)
© 2009 AvivA Verlag, 215 Seiten, gebunden, einige s/w-Fotos im 32-seitigen Nachwort
ISBN 978-3-932338-36-6
18,- €
 
Weitere Informationen:  www.aviva-verlag.de