Tränenlos

Eine neue Gedankensenke

von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynski

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


Tränenlos



Zu ihrem Eigenmythos gehört die Behauptung, Philosophie sei aus dem Staunen entstanden. Sollte auch diesem Mythos, wie den meisten, der Kern von Wahrheit innewohnen, an den ihre Geschichten sich ankristallisierten, so enthält dieser vermutliche Ursprung einen Maßstab zur Beurteilung auch ihrer späten Leistungen. Folgt man ihm, so wird bemerkbar, daß die Philosophie das Fragen, in dem das Staunen sich äußert, wenn es begonnen hat, sich im Bewußtsein zu rühren, lange hinter sich gelassen und sich ganz auf das Erklären verlegt hat. Als wäre es ihre Aufgabe, das Staunen gar nicht mehr aufkommen zu lassen, indem für jede Frage, die gestellt werden könnte, eine Antwort bereit gehalten wird. Als wollte sie sich überflüssig machen.
Das wäre nicht ihr schlechtester Daseinssinn. Nur kommt es auf das Motiv an, überflüssig zu werden. Weil ihr nichts mehr zu tun übrig, alles also getan ist, oder weil die Herausforderungen, denen sie sich stellte, nicht mehr existieren? Das eine ist so unwahrscheinlich wie das andere.
Oder am Ende gar, weil sie hätte einsehen müssen, nicht leisten zu können, was sie immer für ihre Aufgabe gehalten hatte?
Sie hätte ihr Ziel der Überflüssigkeit erreicht, wenn es nichts mehr gäbe, worüber sich noch staunen ließe, weil es nichts mehr gäbe, wofür es keine Erklärung gäbe. Dann bliebe als letztes Erstaunen, daß man einmal hat staunen können – oder aber, wie es möglich sei, nichts mehr unerklärt zu finden. Dafür aber müßte es Erinnerung an den Zustand geben, in dem es noch ‚offene Fragen’ gab.
Schon diesen hypothetischen Zustand zu umschreiben, zeigt, wie weit selbst jene ‚Wissensgesellschaft’ noch von ihm entfernt ist, die manchmal schon glauben will, ihn erreicht zu haben.
Bis zu einem letzten Erstaunen bleibt vieles erstaunlich, nicht zuletzt an der Denkform selbst, die das Staunen erfunden haben will. Etwa:  worüber Philosophen nicht staunen.

Eine solche Erstaunlichkeit hat José Saramago in einer der für seinen Stil kennzeichnenden barocken Abschweifungen in seiner poetischen Reflexion des Problems der Identität entdeckt, in seinem Roman >Der Doppelgänger<, der  selbst philosophischen Ranges nicht durch seine fast verborgen gehaltene Thematik, sondern durch die Antwort auf die Frage ist, die er ungestellt läßt: dass nämlich die Vision einer identischen Reproduzierbarkeit des Menschen als Einzelwesen eine reine Gewaltphantasie ist – das Doppelgängertum, das sie hervorbrächte, wäre für alle davon Betroffenen so unerträglich, dass sie alles daran setzen müssten, sich gegenseitig umzubringen.
Erstaunlich, wie einfach die Lösungen der ‚großen’ Fragen sind, und zum Heulen, wie wenig dieser einfache Gedanke erst gefasst wird.
In der ein mangelndes Erstaunen dingfest machenden Abschweifung schließt Saramago kurz zwischen dem Staunen und dem Heulen.

Vielleicht können wir uns besser verständlich machen, wenn wir ein wenig vom zentralen Thema abweichen und uns auf die klassische, inzwischen gleichwohl etwas in Verruf geratene Einteilung der menschlichen Temperamente in vier Haupttypen besinnen, nämlich den Melancholiker, den die schwarze Galle hervorgebracht hat, den Phlegmatiker, der eindeutig auf das Phlegma zurückgeht, den Sanguiniker mit einer für Lateinkundige nicht weniger eindeutigen Beziehung zum Blut und schließlich den Choleriker, der aus der weißen Galle hervorgegangen ist. Wie wir leicht feststellen können, gab es in dieser vierteiligen, primär symmetrischen Ordnung der Temperamente keinen Platz für die Gemeinschaft der Sanftmütigen. Doch die Geschichte, die nicht immer irrt, versichert uns, daß sie bereits in alten Zeiten existiert haben, und zwar in großer Zahl, so wie auch die Gegenwart, jenes Kapitel der Geschichte, das stets neu geschrieben werden muß, uns sagt, daß sie nicht nur weiterhin existieren, sondern sich sogar noch vermehrt haben. Die Erklärung für diese Anomalie, die uns, angenommen, wir akzeptieren sie, sowohl zu einem Verständnis der düsteren Schatten der Antike als auch des heiteren Lichts der Jetztzeit führen könnte, findet sich möglicherweise darin, daß bei der Definition und Aufstellung der oben beschriebenen klinischen Einteilung eine Stimmung vergessen wurde. Gemeint sind die Tränen. Es ist erstaunlich, um nicht zu sagen skandalös im philosophischen Sinne, dass etwas so Offensichtliches, so Fließendes und Überströmendes wie die Tränen bei den ehrwürdigen Weisen der Antike und auch bei den nicht weniger klugen, wenngleich weniger ehrwürdigen Weisen der Jetztzeit so wenig Beachtung gefunden hat.

Am nächsten kam den Tränen Georg Simmel, als er fast verschämt seinem zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Tagebuch sein Erstaunen anvertraute, wie wenig von den Schmerzen der Menschheit in ihre Philosophie übergegangen ist. Erst Helmuth Plessner sollte, über >Lachen und Weinen< nachdenkend, von der Feststellung einer Aufgabe zu deren Bearbeitung finden.
Tränen sind Zeichen der Schwäche, in ihrem Fluß löst sich die Empfindung einer Überwältigung. Die Überforderung durch eine den ganzen Menschen ergreifende Emotion, einem Unglück hilflos ausgeliefert zu sein, löst ihn aus. Die Tränen sind die haltlose Einsicht in ein menschlich elementares Unvermögen. Sie zeigen an, daß einer erfahren hat, daß es Bedingungen des Daseins gibt, gegen die kein menschliches Vermögen aufkommt.
Tränen sind das empfindlichste Zeichen der Selbstschwäche des Menschen. Deshalb werden sie instinktiv vor anderen verborgen, weil sie zeigen, was für alle gilt, aber niemand wahrhaben will noch darf; weniger, um die Peinlichkeit zu vermeiden, eigene Schwäche zu zeigen.
Als Zeichen dieser Selbstschwäche des Menschen müssen sie ein Ärgernis für eine Philosophie sein, die ihren Ehrgeiz daran setzt, den Menschen gegen seine Daseinsbedingungen stark zu machen. Aber anders als Nietzsche, der ‚ängstliche Adler’, wie ein Biograf ihn treffend nannte, der aus eigener Erfahrung den Mechanismus nur zu gut kannte, und eine Vision eines Menschen entwarf, der gerade aus der Erkenntnis seiner Schwäche zu einem starken Wesen würde, begann die Neuzeit, deren Zeitgenossen wir unverändert sind, Postmoderne hin, Nachgeschichte her, mit der Entdeckung der Stärke, der Macht, die im Wissen stecke.

Seitdem ist die Philosophie als Instanz der Gewährleistung und der Bekräftigung des menschlichen Erkenntnisvermögens an das Fremdinteresse gebunden, und von der Selbsterfahrung des Menschen in seinem Dasein abgelenkt. Gerade, weil ihre Bemühung, eine unanfechtbare Erkenntnis der Welt zu begründen, um die Wirklichkeiten des Daseins kalkuliert beherrschen zu können, ganz im Bann der ursprünglichsten aller Erfahrungen steht, dass die Welt voller Gefahren ist, gegen die es alle Vermögen, über die der Mensch verfügt, zu stärken gilt. Der Mensch ist das Wesen, das zum stärksten aller Lebewesen wurde, weil es das schwächste in einer ihm am wenigsten wohlgesonnenen Welt ist.
Gegen die Ungewißheit des Daseins setzt die Neuzeit statt der Selbsterkenntnis die Fremderkenntnis einer Natur, deren möglichst vollkommene Erkenntnis sie den Lebensanforderungen des Menschen unterwerfbar werden lassen soll. Der Mensch ist das einzige Wesen, das damit die ursprüngliche Konstellation umkehrte, und statt sich an die Welt, diese an sich anpaßt.
Das Erscheinen des Menschen in der Welt muß von so großer Unwahrscheinlichkeit und so geringer Chance auf Dauer gewesen sein, dass die Welt bis heute nicht aufhören konnte, über ihn zu staunen, und er selbst nicht, sich seines Seins in ihr unsicher zu fühlen. Die Nötigungen der Behauptung einer äußerst unwahrscheinlichen Existenz haben das Wesen, das als einziges dazu befähigt ist, sich für sich selbst zu interessieren, darauf festgelegt, sich vor allem anderen für alles außerhalb seiner selbst zu interessieren. Von dieser anthropogenetischen Erbschaft lebt noch jede geheimdienstliche Informationssammelwut, jede Talkshow, jede Illustrierte aller Regenbogenpressen, jeder Schwatz unter Nachbarn über Nachbarn im Hausflur. Es ist existenzsichernder, die anderen zu kennen, als sich selbst.

Das erste aller menschlichen Interessen an Selbsterhaltung legte die Ausbildung der menschlichen Fertigkeiten auf Fremdbeherrschung fest. Als Folge dieser Bündelung aller Kräfte, die geistigen eingeschlossen, ließ die Selbstwahrnehmung verkümmern, barg doch die Ablenkung des Erhaltungsinteresses vom ‚Äußeren’ der Welt die Gefahr, in der Aufmerksamkeit auf Gefahren nachzulassen. Das Interesse an sich selbst ist erst ein Luxus des Menschen, der die Gefährdung des Menschseins nicht mehr elementar erlebt.
Der berüchtigte ‚homo mensura’ - Satz des Protagoras, demzufolge ’der Mensch das Maß aller Dinge ist’, war noch keine Anweisung auf Anthropologie, sondern eine frühe Formel für die Bedürftigkeit des Menschen als eines in der Welt kaum verankerten Wesens, das zuerst diese kennen muß, bevor es sich leisten kann, sich selbst kennen zu wollen.
Der Kleinbürger, der es im Leben zu etwas bringen will und alles an sein Fortkommen wendet, der seine Selbsterhaltung so umsichtig und ausschließlich betreibt, daß er gar nicht dazu kommt, an ein Selbst zu denken, so daß er im endlich erreichten Ruhestand an seiner Selbstlosigkeit den plötzlichen Rentnertod stirbt, erfüllt das neuzeitliche Daseinsprogramm des weltungewissen Lebewesens mustergültig.
Jede Träne, die im Prozeß der Zivilisation über den Leiden vergossen wurde, die er kostete, war eine Mahnung an die Größe der Aufgabe, und desto verächtlicher, je größer die Überzeugung wurde, sie gelöst zu haben. Jede, die noch vergossen wird, ist ein Stück Zweifel, ob es wirklich gelungen sei: eine Welt, in der noch eine einzige vergossen werden kann, kann noch keine vollendet menschliche Welt sein.
Gegen diesen nie ganz zu beruhigenden und stetig fortschwelenden Verdacht sind alle Anstrengungen der modernen Philosophie gerichtet gewesen, die Erkenntnis zu einem unfehlbaren Instrument der Weltbeherrschung zu machen.
Notwendig und allgemein müsse eine Erkenntnis aus Vernunft sein – und welche andere käme für einen Philosophen auch in Frage - , faßte der Königsberger Einsiedler Immanuel Kant ihr Ideal zusammen. Privates aus eigener, und das hieß gemäß dieses höchsten Maßstabes: zufälliger und einzelner, Erfahrung kam da nicht in Betracht. Nicht zuletzt deshalb, weil es bei Kant selbst so gut wie nichts gab, was zu einer Erkenntnis aus Eigenem zu allgemeiner Einsicht hätte befähigen oder gar nötigen können wie tränentreibende Erlebnisse. Kant war die ideale Verkörperung des Schreckbildes eines weltlosen Gelehrten, der in einer Lebensferne ausschließlich seinem Begriffswerk hingegeben dahinlebte, von der sich nicht sagen läßt, ob sie aus Gleichmut oder Gleichgültigkeit stammte.
Seine reine Vernunft – deren ‚Kritik’ einer der größten Geniestreiche in zweitausend Jahren Philosophie ist – ist auch eine bereinigte Vernunft.
Das verlieh ihm Ansehen auch bei dem reinen Denken sonst ganz abgeneigten Angehörigen der Nation, die sich, aus Blut und Dreck von einem haß- und tobsüchtigen Junker zusammengekriegt und –gekauft, bis heute auf ihren Sauberkeitssinn so viel zugute hält, nicht bedenkend, daß es der aus ihm entsprungene Wahn der Rassereinheit war, was sie um ihre kaum begonnene Geschichte als Nation brachte.

Erst der sterbende Kant weinte, aus Schwäche und versagender Kraft, im Bewußtsein, nun zu vergehen, ohne ganz geleistet zu haben, was er sich aufgegeben hatte.
Unsere Tränen erinnern daran, daß der Mensch, der sich gegen die Welt mit seiner Kultur so stark machte, daß mancher es an der Zeit findet, über die Bewahrung der Welt vor der Stärke des Menschen nachdenken zu sollen, so schwach ist, wie er immer war.
Der weinende Mensch ist der schwache Mensch; aber der Mensch darf nicht schwach sein, um sein zu können. Vor allem aber ist er der Mensch, der nicht mehr ausweichen kann, dem die Grundleistung der Kultur nicht mehr beisteht, fernzuhalten, was einem nicht zu nahe kommen darf, und zu delegieren, was man selbst nicht leisten kann.
Viele Lebenstätigkeiten lassen sich delegieren, von anderen für einen erledigen, sogar das Leben selbst, das wir von anderen etwa in den Romanen führen lassen können, die wir – deswegen – lesen; fast alles läßt sich von fast allen für fast alle tun, so, wie ein jeder von anderen durch Zeugung und Geburt hat ins Leben gebracht werden müssen; Tränen vergießen muß man selbst, so wie man selbst wird sterben müssen, und wie viele sind nicht darüber von denen vergossen worden, die einsehen mußten, daß dieser letzte Schritt des Lebens für sie nun unausweichlich geworden war.
Umso erstaunlicher, wie geringfügig das Los der Tränen in der Philosophie ist, als sie das Leben doch immer von diesem Ende her so ausschließlich dachte, daß wenig Sinn für das übrig blieb, was ein Leben davor ausmacht.


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007