Zu neuen Ufern

Michael Quast und Philipp Mosetter erklären „Faust I“

von Frank Becker

v.l.: Philipp Mosetter, Michael Quast - Foto: Konzertdirektion Claudius Schutte

Zu neuen Ufern
oder
Ist Gretchen wirklich blond?
 
Michael Quast und Philipp Mosetter erklären „Faust I“
Ein literarisch-kabarettistischer Abend mit Herrn von Goethe
 
 
„Was für ein Gewäsch über den Faust! Alles erbärmlich.
Gebt mir jedes Jahr 3000 Thlr., und ich will euch in drei Jahren
einen Faust schreiben, daß ihr die Pestilenz kriegt.“
Christian Dietrich Grabbe (1801-1836), Dramatiker und
Kritiker des „Düsseldorfer Tageblatt“, im Jahr 1835

 
Auf der Bühne des Remscheider Teo Otto Theaters zwei schlichte quadratische Tische mit Leselampe, zwei Stühle, auf dem linken Tisch ein Stapel Bücher, eine Flasche Rotwein, ein Glas, auf dem rechten ein gelbes Reclam-Heft, eine Flasche Wasser, ein Glas. Auftritt des Personals. Links, also beim Rotwein und dem Bücherstapel, nimmt ein korrekt gescheitelter, distinguierter Anzugträger Platz (er wird der Flasche ordentlich zusetzen), Typ Literaturwissenschaftler (Lehre), rechts ein eher leger gekleideter Herr, mehr der Typ Künstler (Schauspieler), wogegen allerdings das Mineralwasser spricht. Es geht um Goethes Opus magnum, den „Faust – Der Tragödie 1. Teil“.
 
 „Faust ist ein Klassiker – Faust ist der Klassiker!“ - die beiden Herren auf der Bühne sind sich da schnell einig. Etwas länger braucht es jedoch, bis das „Ach!“ (Sie wissen schon: „Habe doch Ach! Philosophie, Juristerey und Medicin und leider! auch Theologie…“) bei Herrn Quast sitzt. Michael Quast ist nämlich der von den beiden, der unter der Anleitung des anderen, nämlich Herrn Philipp Mosetter, an diesem Abend die Aufgabe haben wird, dem Publikum als Vortragender Johann Wolfgang von Goethes Drama und dessen dramatis personae – nur nicht die Margarete nahe zu bringen. Die behält sich nämlich Herr Mosetter vor, sei er doch (oder seine Mutter) die Idealbesetzung. Nun ja.
Daß der Gelehrte Heinrich Faust ein mit sich und der Welt hadernder alter Knaster ist, muß erst einmal klargestellt werden. Dann aber geht es wie geschmiert, und Herr Quast kann als alter und durch den Pakt mit dem Teufel verjüngter Faust, dessen Famulus Wagner, als Marthe Schwerdtlein, Hexe(n), Meerkatze, Schnaken, Geist usw. usw. brillieren. Sein Mephistopheles, geradezu genial durch eine Handpuppe aus dem Kasperle-Theater realisiert, gerät ihm dabei mustergültig. Währenddessen erläutert, kommentiert, strafft und streicht Philipp Mosetter, souverän auch in seinen Ab- und Ausschweifungen, die Tragödie, vermittelt Fakten aus Herrn von Goethes Biographie und wenig bekannte delikate Details aus dessen Liebesleben. Ich sage nur „Faustina“. Hanns Josef Ortheil hat das in seinem Goethe-Roman „Faustinas Küsse“ sehr fein beschrieben. Eine sensible Lichtregie unterstützt das Vorhaben dezent. Nur für kurze Zeit nahm ihm nach der Pause eine im Sog der Schnaken-Szene wie bestellt „auftretende“ Motte amüsant das Heft aus der Hand und riß das Lachen an sich.
 
Morgen
 
Es würgte mich in aller Stille
Der Morgenengel Widerwille
 
(Mosetter, nicht Goethe)
 
 
Wir lernen: es gibt eine direkte Verbindung Goethe-Heisenberg. Wir lernen weiter: Goethe beschreibt den Urknall (was brauchen wir also CERN?). Wir fragen: ist Gretchen zwingend blond? Wir bekommen: unverzichtbare Informationen über die Geschichte des Papierfliegers (wobei mir voller Scham noch einmal vor Augen trat, wie wir als 14-jährige Schüler im Kölner Schauspiel bei den „Räubern“ ebensolche vom Rang segeln ließen). Wir lernen vor allem: bloß nicht alles zu ernst nehmen – wenn auch eine vereinzelte Publikumsstimme meinte, das könne man doch mit Goethe nicht machen. Oh doch, man kann. Das jedenfalls bestätigten begeistert einige junge Damen, die derzeit den „Faust“ in der Schule durchnehmen. Wir lernen auch: Goethe hat auch dem US-Fernsehen etwas vorweggenommen, die Serie nämlich: Urfaust - Faust I - Faust II.
 

© Peter Thulke
Unterhaltsamer als in diesem Literaturlehrstück, inkl. Pause sind es 2¼ Stunden die im Fluge vergehen, kann man wohl die zentnerschwere Tragödie, deren Entstehungszeit sich über immerhin 59 Jahre erstreckte, kaum vermitteln. Mosetter und Quast ziehen gekonnt Literaturwissenschaft, Philosophie, Psychologie, Quantenphysik und Theater dabei zu Rate und im selben Zuge durch den Kakao – und vermitteln den „Faust“ dabei doch fundamental. Man amüsiert sich wie Bolle, wird gleichzeitig zu neuen Ufern der Faust-Rezeption geführt und nimmt eine Menge Goethe mit nach Hause. Zum bejubelten Kabinettstückchen wurde neben Quasts Meerkatzen-Einlage (und der extemporierenden Motte) Gretchens Szene (Vers 3306) „Meine Ruh ist hin“ in der
musikalischen Fassung von Mosetter/Quast: „Gretchen hat den Blues“.
 
Immer wieder bekam Goethe mit seinen Schriften Probleme mit der Obrigkeit und oft landeten seine Werke im „Giftschrank“. So wurde z.B. der „Werther“ schlichtweg als Schmutz und Schund bezeichnet. Der „Faust“ wurde von der Zensur verstümmelt, Herr Quast und Herr Mosetter belegen es episch-drastisch anhand der apokryphen Walpurgisnacht-Szene.
„Wie ekelhaft, daß Faust die Natur bei ihren Brüsten fassen will!
“, schrieb dazu der Philologe Karl August Böttiger (1760-1838). Diese Brüste verwandeln sich in Quellen, und an diesen hängt Himmel und Erde. Fausts welke Brust drängt sich an diese Brüste der Natur, als Quellen allen Lebens; sie quellen, sie tränken, aber dem armen Faust kommen sie nicht zugute. Da ein Dichter wie Goethe solche Verse in die Ausgabe seiner Werke von letzter Hand aufnimmt, darf man sich wohl wundern, wenn die Franzosen den Deutschen den Ungeschmack zum Vorwurf machen?“
Man lese zum Thema auch Heinrich Hubert Houbens „Der polizeiwidrige Goethe.“

Zum Nachhangeln auch für die Schülerinnen und Schüler des Deutsch-Leistungskurses der Sophie-Scholl-Gesamtschule hier der Vers-Faden, an dem sich dieser ebenso kurzweilige wie lehrreiche Abend entwickelte: 386-701-1064-1147-1334-1350-1359-1546-2465-2605-2897-3306-4405. Aber eigentlich zählten nur die ersten 30 Zeilen des Stücks, meint der Kommentator, später wiederhole sich ja alles nur. Und er legt spitzfindig „Beweise“ dafür vor.
Wohl selten wurde eine Literaturvorlesung mit solchen Ovationen gefeiert wie diese. Als Dank gab es eine Zugabe (Mosetter:
„Sie haben sich das selbst zuzuschreiben“): „Faust - Der Tragödie 2. Teil“. Na ja, beinahe. Ein köstlicher Abend. Ein „Faust“, der im Gedächtnis bleibt.
 
„Ein Kranker, der in der Fieberhitze phantasiert, schwätzt lange nicht so albern als unser oder vielmehr der Göthische Faust. Von dem Unedlen der Diktion, von der Erbärmlichkeit der Versifikation werde ich in der Folge schweigen; an dem, was der Leser sah, hat er Beweise genug, daß der Herr Verfasser in Beziehung auf den Versbau sich auch nicht mit den mittelmäßigen Dichtern der alten Schule messen könne.“
Franz von Spaun (1753-1826), Schriftsteller und Publizist