Die Vergangenheit - eine leere Flasche

von Claude Tillier

Claude Tillier
Die Vergangenheit - eine leere Flasche

Onkel Benjamins Herz war gegen Schicksalsschläge gepanzert. Wohl stak sein Leib im Sumpf des Allzumenschlichen: wenn er zu viel getrunken hatte, bekam er Schädelweh; war er zu weit gewandert, wurde er müde; ging er auf schlammigen Wegen, so bespritzte er sich bis hoch zum Rücken; wenn er seine Zeche nicht bezahlen konnte, so kreidete es ihm der Wirt an. Aber wie der Fels in der Brandung, an dessen Sockel sich die Woge bricht, während sein Haupt in heiterer Sonne strahlt, wie der Vogel, der zwar sein Nest in der Hecke am Weg hat, aber im weiten blauen Himmel lebt, so schwebte seine Seele in höheren Sphären, stets gelassen und heiter.
Er kannte nur zwei Bedürfnisse: Hunger und Durst. Wäre der Himmel in Trümmern auf die Erde gestürzt und hätte eine einzige Flasche Wein unversehrt gelassen, mein Onkel hätte sie auf die Wiederkehr des zermalmten Menschengeschlechts auf irgendeinem noch existierenden Stern gelassen ausgetrunken. Ihm galt die Vergangenheit nichts mehr und die Zukunft noch nichts: die Vergangenheit verglich er mit einer leeren Flasche und die Zukunft mit einem Huhn, das erst des Spießes harrt.
 


Aus Claude Tillier:
Mein Onkel Benjamin