Der Sommer-Lebemann

von Anton Kuh

Anton Kuh - Emil Orlik pinx.
Der Sommer-Lebemann
 
Ohne Zweifel: es gibt wirklich streng gezügelte Ehemänner, die ihre jahrüber verhaltene Abenteuerlust in diesen zwei Monaten froher Ungebundenheit austollen lassen; aber sie sind an den Fingern abzuzählen, und wenn man ihnen besser zusieht, gewahrt man, daß sie es im Winter zwar heimlich, aber nicht anders treiben. Nur die französische Possenbühne kennt solche Ehestands-Exemplare, die sich die zehn Monate über in der sittsamen Treibhausluft der Familie gleichwohl für die restliche Zeit des Hollodrihtums frisch zu erhalten wissen. Im Leben aber gleichen sie eher dem trocken gewordenen Ulrik Brendel; die Wartezeit hat ihre Kräfte aufgezehrt; am Ziel ihrer Wünsche erkennen sie, daß sie gar keine haben. Die Ehe hat ihren Magen auf Kosten des Blutes genährt und der Genius der Behaglichkeit steht ihnen näher als der bacchantische Geist. Sie ziehen den Smoking an und sehnen sich nach dem Schlafrock.
    Trotzdem verlangt der Begriff „Männlichkeit“ seine Ehren. Brav reimt sich auf Schaf; das Seitwärtsschwärmen und Hinterm-Rücken-Leben aber strömt ein männliches Aroma aus, Leichtsinn gilt für Jugendkraft. Und so wird aus dem Winter-Ehemann ein Sommer-Lebemann. Er markiert schon eine Woche vor der Abfahrt seiner Familie Ungeduld, seufzt beim Abendtisch unter Freunden auf, als ließen sich die Flügel kaum noch zurückhalten, macht ein schuldbewußt-durchtriebenes Lausbubengesicht, wenn ganz zufällig der Blick der Frau ihn streift, winkt mit affektierter Verlegenheit den Stachelreden seiner Kollegen ab, und wenn einer von ihnen die Bemerkung macht: „Ja - in einer Woche!“, dann lispelt er mit dem Augenaufschlag eines durchschauten Schlingels: „Macht mich nicht schlechter als ich bin.“ Die Frau aber deckt ihn mit dem liebevollen Stolz einer Mutter zu, deren Ältester - so ein Filou! - schon ehebrechen kann: „Na, Du bist der Richtige!“
    Am ersten Freiheitstage wechselt der Sommer-Lebemann seinen Anzug; er wählt natürlich den von der lichteren Farbe, womöglich das Leinengewand (beziehungsweise: Lüster, Rohseide usw.). An Stelle des breiten, eheherrlichen Panamahutes tritt der kleine, kecke Girardihut, die Hand spielt mit einem zierlichen Rohrstöckchen, mitunter schwingt auch, als Zeichen der Unternehmungslust, ein Überzieher am Arm. Die erste Mittagsfrage im Restaurant lautet: „Was machen wir heute abends?“ Dann werden alle Vergnügungsstätten und Musiklokale durchgenommen bis zur endgültigen originalen Einsicht, daß in Wien nichts los ist. Die Reihe geht wieder zurück und man kommt überein, sich am Abend in einem anderen Restaurant eines anderen Stadtteils wieder zu treffen. Dort bezwingt der Sommer-Lebemann bis zwölf Uhr den Schlaf und schämt sich endlich vor dem Hausbesorger, so zeitlich daheim zu sein.
    Am nächsten Tag hat er ein anderes Programm. Wozu braucht er Mitwisser seiner Harmlosigkeit? Er wird also mystisch um ½9 Uhr auf und davon verschwinden, sich ebenso mystisch um ¾12 Uhr in einer möglichst zweifelhaften Gegend blicken lassen und - so Gott will - um 3 Uhr früh von einem Bekannten in Duliäh-Laune getroffen werden. Und was soll er in der Zwischenzeit beginnen? Warum nicht wirklich ein Abenteuer? Ja, aber so etwas ist schwer: wer suchet, der findet nichts, und was er findet, ist wenig gesucht. Unter Freunden allerdings - aber das geht ja nicht, denn sie sind alle wie er, beobachten sich gegenseitig in ihrer hilflosen Langweile und wirken unbehaglich. Und dieses Programm-Machen überhaupt ist ein schlechtes Zeichen; früher ergab es sich von selber und von rückwärts. jetzt aber erhebt er es zu seinem Herrn, sein Arbeitsgeist geht im Meritorischen auf, er berechnet Zeit, Eintrittsgelder, Speisentarife, Ergötzungsbehelfe - und es wird ihm am Ziele etwas abgehen: das Ergötzen. Hol´s der Teufel! Er überläßt alles dem Zufall und geht in den Prater, in den Kaisergarten oder in die Ausstellung.
    Hier wandelt er die Avenue auf und ab, auf und ab. Wohin man blickt - erblickt man ihn: in einem weißen Leinenanzug, mit Rohrstock und Girardihut, als würde er zwischen zwei Don-Juanerinnen ein bißchen Luft schnappen - ein wandelndes Gespenst reisefertiger Unternehmungslust! Man sieht ihn um 10, 11, 12, um 1 und um 2 Uhr. Um diese Zeit findet er - weil er sonst nichts findet - seinen Humor. Er setzt sich anspruchslos ins letzte offene Wirtshaus, trinkt sein Achtel G'spritzt und wankr, den Hut ein bißchen zur Seite gestülpt, wie der angesäuselte Gott der Feschheit, aus dem Lokal. Zwei Minuten vom Wohnort entfernt nimmt er ein Auto und rattert damit aus dem wilden strömenden Leben heraus in sein stilles Gäßchen.
    Am nächsten Tag wird gemunkelt, gestichelt, gefrozzelt; tjaa - man hat ihn gesehen. Er wird rot. Na, nur nicht verlegen werden, die Frau soll nichts erfahren. Ach so - sie wissen nicht, daß sie nichts wissen. „Aber, was wollt ihr denn“, protestiert er, „ich hab´ mich um zehn Uhr Schlafen gelegt.“ Einer riecht zu seinem Rock: „Aah!! Wie heißt sie?“ Ein anderer sagt beziehungsvoll: „Man hat jemanden gestern um 3 Uhr im Auto gesehen.“ Der Freund bleibt schweigsam und fühlt sich pudelwohl. Gott sei Dank! Er hat für ein ganzes Jahr Manneswürde; denn er hat gezeigt, daß er insgeheim doch ein verfluchter Kerl ist.
    So zieht der Sommer dieses Lebemannes zwischen Stammtisch- und Promenadenächten wechselnd vorüber. Wenn die Frau zurückkommt, ist es so weit, daß sich die Kollegen glücklich ein oder das andere Mal vor ihr nicht verschnappen dürfen. Sie merkt es und ist zufrieden: Der Leinenanzug hat seine Mission getan. Sie packt ihn wieder ein, wie sie ihn am Tag ihrer Abfahrt herausgelegt hat und bewahrt ihn für den nächsten Sommer auf, in dem er ihrer Ehe wieder ein beneidenswertes Fluidum zu geben hat.
 
 
 Anton Kuh