Der Alkohol, die Dichter & die Literatur

Eine Dokumentation in fünf Teilen - 3. Teil

von Niels Höpfner

Jean Beraud - Absinth-Trinker

Der Alkohol, die Dichter
& die Literatur

Eine Dokumentation von Niels Höpfner
in fünf Teilen

3. Teil

Paul Verlaine ist noch Zeitzeuge einer literarischen Richtung gewesen, die –in ihrer reinsten Form- um 1880 in Frankreich entstand: dies war der Naturalismus. Er trieb die Wirklichkeitserfassung des Realismus  weiter, indem er bevorzugt Niedrigkeit & Häßlichkeit des alltäglichen Lebens darstellte, unter dem Einfluß von Milieutheorie und Darwins Vererbungslehre. Das Industrieproletariat provozierte eine Arme-Leute-Literatur, wobei thematisch auch nicht der alkoholische Dunstkreis ausgespart blieb. Der führende Kopf der Naturalisten war, als Romancier & Theoretiker, Émile Zola. 1877 erschien sein Skandalroman "L'Assomoir" (der bezeichnendste deutsche Titel von mehreren: "Die Schnapsbude"), in dem er die Verheerungen des Alkohols bei einer Arbeiterfamilie schildert, zweifellos angeregt von der Erzählung "Germinie Lacerteux" (1865) der Brüder Goncourt. In seiner Untersuchung  "Alkohol im französischen Naturalismus – Der Kontext des Assomoir" (Bonn 1991) hat Willi Hirdt die Problematik umfassend dargestellt. Auch im europäischen naturalistischen Drama jener Zeit bildet Alkoholismus ein Hauptthema, so in Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" (1889) und in Maxim Gorkis "Nachtasyl" (1902), und er bleibt ein Thema bis zur Machtergreifung der nationalsozialistischen Saubermänner, zum Beispiel in Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman "Berlin  Alexanderplatz", der "Geschichte von Franz Biberkopf".

II

Im 20. Jahrhundert scheint Amerika das literarische Trinkerzentrum zu sein. Der sozialkritische Schriftsteller Upton Sinclair (1878-1968) veröffentlichte 1956 sein Buch "The Cup of Fury", das 25 Jahre später auf deutsch unter dem Titel "Becher des Zorns" erschien, und dieses Werk bezeichnete der Autor selbst als "tragische Chronik eines halben Jahrhunderts vom Alkohol verzerrter und gequälter amerikanischer Schöpferkraft".
Obwohl im familiären Umfeld seiner Jugendzeit der Alkohol in Strömen floß, beeinflußte dies Upton Sinclair nicht, sondern er blieb strikter Antialkoholiker (vielleicht brachte er es dadurch zum Methusalem von 90 Jahren). Als trockener Moralist focht er bereits 1931 in seinem literarisch schwachen Roman "Alkohol" für die Prohibition, und im "Becher des Zorns" erscheint seine Polemik noch wesentlich schärfer. Bisweilen ereifert er sich unangenehm wie ein beflissener Heilsarmist, und man hat den Eindruck, daß der –auch durch die beiden Bücher- selbsterrichtete Schutzwall gegen den Alkohol äußerst fragil war.
Nicht ohne Selbstgerechtigkeit, wie es scheint, beschreibt Sinclair sein eigenes Verhältnis zum Alkohol: "Ich habe so viele andere Arten des Rausches verspürt- die Naturbetrachtung, die Lektüre großartiger Gedichte, das Anhören von Musik, und, vor allem, das Streben nach und das Erlangen von Wissen, daß ich nie das geringste Interesse am Alkohol hatte. Als Jugendlicher trank ich an manchen Sonntagen ein Schlückchen Abendmahlswein; es war Rotwein, glaube ich, aber ich kann mich nicht an den Geschmack erinnern. Auf jeden Fall waren meine Gedanken religiöser Art, wenn der Wein meine Lippen netzte, und nicht die eines Feinschmeckers. ...Mein ganzes Leben lang konnte ich von mir sagen, daß ich 'ohne Alkohol trunken' war."

Im "Becher des Zorns" schildert Upton Sinclair –als abschreckende Beispiele- die Trinkerkarrieren einiger bedeutender Kollegen, die seinen Lebensweg kreuzten. Am Anfang steht sein Freund Jack London, geboren 1876, Autor von Abenteuer-Romanen wie "Wolfsblut", "Der Seewolf" und "Lockruf des Goldes": "Es hatte alles begonnen, als er fünf Jahre alt war –so erzählte er- und aus dem Krug mit Bier getrunken hatte, den er zu seinem auf den Feldern arbeitenden Stiefvater trug. Mit fünf Jahren hatte sich Jack London besinnungslos betrunken!... Mit zehn Jahren zog er durch die Straßen von Oakland und warf Zeitungen vor die Hauseingänge. Daran war nichts besonders Aufregendes, sagte er; aber wenn er in die Kneipen ging, dort fand er Anregungen jeder Art. Männer lärmten, lachten laut, alles war großartig und herrlich, und manchmal gab es Prügeleien. Selbst die Betrunkenen, die über die Tische gesackt waren oder auf dem mit Sägemehl bestreuten Fußboden lagen, erschienen ihm verwegen und voller Zauber. Kneipen waren die Plätze, wo sich Männer kennenlernten, wo sie Geschäfte abschlossen und sie mit einem schnellen ruckartigen Sturz des Schnapsglases besiegelten.

Dann, mit vierzehn, arbeitete Jack auf einem Schiff im Hafen. In der Kabine begann er ein Wetttrinken mit zwei Männern. Er trank Glas auf Glas mit ihnen, und das Ergebnis war, daß die zwei Männer unter den Tisch rutschten, während Jack, der damals noch ein Junge war, an Deck gehen und dort herumlaufen konnte. Das machte ihn außerordentlich stolz... Jack arbeitete beim Fischereischutz; und sowohl während als auch nach der Arbeitszeit stand er gegen die gefürchtetsten Trinker seinen Mann- das war 'Ehrensache'... Von diesem Zeitpunkt an trank er bei jeder Gelegenheit; er begann das Interesse am Essen zu verlieren. Morgens wachte er mit zitternden Händen auf, und sein Magen fühlte sich auch nicht besser an. Er brauchte ein ganzes Glas Whisky, um auf die Beine zu kommen..."
Jack London hat sein Lebensproblem in dem 1913 erschienenen autobiographischen Roman "John Barleycorn. Alcoholic Memoirs" (deutscher Titel: "König Alkohol") mit schamloser Ehrlichkeit und literarisch stringent dargestellt.

John Barleycorn (auf deutsch: Hans Gerstenkorn) ist im angloamerikanischen Volksmund ein Scherzname für Alkohol. In seinem Roman will Jack London zeigen, daß er nicht durch seine Veranlagung, sondern durch Umwelteinflüsse zum Trinker wurde, und außerdem liegt ihm an einer Schilderung der "Auswirkungen des Alkohols auf den normalen Durchschnittsmenschen".
Wer sich auf eine Kumpanei mit John Barleycorn einläßt, begibt sich in ein ambivalent-paradoxes Verhältnis zu ihm: "Sein Weg führt zur nackten Wahrheit und zum Tod. Er schenkt Erkennen und wirre Träume, er ist der Feind des Lebens und der Lehrer einer Weisheit, die jenseits des menschlichen Vorstellungsbereichs liegt."
Wie sehr auch Jack London der Alkohol abstieß, seine Anziehungskraft war größer, was vom abhängigen Gewohnheitstrinker nonchalant geleugnet wird: "Leider kann ich nicht die Bekehrung eines Säufers berichten. Ich war nie ein Säufer, und ich bin nicht bekehrt worden... Nein... ich trinke weiter, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Alle Bücher von mir auf den Regalen, alle Gedanken der großen Denker, von meinem persönlichen Temperament beleuchtet, zur Hand, beschloß ich kühl und wohlüberlegt fortzufahren, wie ich es jetzt gewohnt war. Ich wollte trinken- nur bedächtiger, vorsichtiger als bisher. Nie mehr wollte ich einem wandernden Feuerbrand gleichen..."
Jack London löste in seinem Leben dieses Versprechen nicht ein, sondern trank hemmungslos weiter und beging 1916, auf dem Gipfel seines literarischen Ruhms, Selbstmord.

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Den um eine Generation älteren Zeitgenossen Jack Londons Ambrose Bierce (1842-1914) beschreibt Upton Sinclair in seiner Trinker-Galerie folgendermaßen: "Er war ein überaus fruchtbarer Schriftsteller, seine gesammelten Werke füllten zwölf dicke Bände. Seine Kriegsgeschichten waren realistisch und bemerkenswert! Seine Philosophie war zerstörerisch. In The Devil's Dictionary, einem der bissigsten Bücher, die jemals geschrieben wurden, fand er Vergnügen an Definitionen wie dieser: 'Glück- ein angenehmes Gefühl, das entsteht, wenn man das Unglück anderer betrachtet.'

Bierce ist von seinem Zyniker-Kollegen Henry Mencken mit diesen Worten porträtiert worden: 'Was ihn am Leben am meisten erfreute, war das Schauspiel menschlicher Feigheit und Torheit. Den Menschen als verstandbegabtes Wesen plazierte er irgendwo zwischen dem Schaf und dem gehörnten Vieh und als Helden irgendwo unterhalb der Ratten... Bisher habe ich in diesem Leben keinen konsequenteren Zyniker als Bierce getroffen.'
Bierce füllte die Lücken in seiner Welt durch Trinken aus; und doch half ihm seine strotzende Gesundheit bis ins siebzigste Lebensjahr- ein außerordentliches unglückliches Jahr. Er hatte jenes Stadium des Alkoholismus erreicht, wo das Leben zur Qual wird. Und in dieser Zeit der Seelenqual wählte er einen merkwürdigen Weg, um sein Leben zu beenden: er brach nach Mexiko auf - damals ein Inferno von Krieg und Banditentum - und starb dort auf eine unbezeugte und immer noch unbekannte Weise. 'Dort marschierte er –wenn man der Legende glauben darf- mitten in die eben ausgebrochene Revolution', sagt Mencken, 'und ließ sich erschießen...'"

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Ein ähnlich autodestruktiver Charakter muß F. Scott Fitzgerald (1896-1940), Autor der Romane "The Great Gatsby" und "The Last Tycoon", gewesen sein. Über ihn weiß Upton Sinclair zu berichten: "Wir sprachen über F. Scott Fitzgerald, einen glänzenden Stern im Jazz-Ära-Kaleidoskop der Alkoholschmuggler, des hausgebrannten Gins und der Backfische. Scott und Zelda, seine Frau, wollten Vergnügen, und sie wollten es schnell. Sie lebten schnell und starben jung- Zelda in einer Heilanstalt, Scott unter den Qualen des Alkoholismus. Seine Freunde nannten ihn 'F. Scotch Fitzgerald'. Alkohol war das zentrale Thema seines Lebens- und zynische, wirre und tragische Trinkerei war ein zentrales Thema in seinen Büchern, die auf Alkoholströmen dahindümpeln. Er war ein großer Künstler, der vom Schnaps in ein Studienobjekt für Pathologen verwandelt wurde."

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Mit Sinclair Lewis beginnt die Reihe der amerikanischen Literaturnobelpreisträger, die dem Alkohol verfallen waren, und sie wird sich fortsetzen mit Eugene O'Neill, William Faulkner und Ernest Hemingway. (John Steinbeck trank zwar auch gern, wohl aber kaum ständig und maßlos. Immerhin schaffte er es, das seiner Frau gegebene Versprechen zu halten, den Nobelpreis nicht betrunken entgegenzunehmen.) 
Über Sinclair Lewis (1885-1951), den Erfinder der amerikanischen Spießbürgerfigur Babbitt, schreibt Upton Sinclair: "...es war genauso wie bei Jack London: Der Alkohol hat ihn kaputtgemacht... der Liter Weinbrand pro Tag, der Schüttelfrost, das Dahindämmern, das Abschwören, die Wein-Phase, das ruhelose Umherziehen, das Ausweichen vor Freunden und die Suche nach Frieden, wo kein Frieden ist, das Nachlassen der schöpferischen Kraft und das endgültige Delirium."
Ein amerikanischer Literaturprofessor über Sinclair Lewis, der die letzten Monate seines Lebens in Europa verbrachte: "Sobald er das Manuskript fertig hatte, begann er zu trinken, bis ihm sein Arzt aus Florenz den Alkohol verbot. Als ich im April zu ihm stieß, trank er Unmengen Rotwein... Als der August kam, trank er nur noch Bier, aber er hatte bereits zwei schwere Herzanfälle hinter sich und hätte noch nicht einmal das anrühren sollen.

Ich vermute, daß in drei Jahrzehnten Hunderte von Leuten Sinclair Lewis betrunken gesehen haben; zweifellos hat er sich selbst zu einem weitbekannten öffentlichen Spektakel gemacht. Ich kann nicht sagen, was ihn während seiner kreativen Jahre aufrecht hielt; aber ich weiß, daß er an deren Ende –mit dem Rücken zur Wand, sich betrunken oder nüchtern selbst ins Auge sehend- nicht zurückzuckte. Da spielte eine ausgeprägte Unbekümmertheit hinein. Er trank nicht, weil er unglücklich war und Trost brauchte; er war auch nicht das, was man einen Trunkenbold nennen würde. Er war kein desillusionierter Scott Fitzgerald, der wie unter Zwang trank. Es mag nicht viel Freude in dem gewesen sein, was... (Sinclair Lewis) tat, aber da war immer noch etwas kühn Herausforderndes."

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Im Nachruf des Time-Magazins auf den amerikanischen Dramatiker Eugene O'Neill (1888-1953) findet sich angemerkt, "seine Seereisen wurden von homerischen Schnapsrekorden an Land unterbrochen, von einer Periode als Stadtstreicher".
Schon 1932, vier Jahre vor der Verleihung des Nobelpreises, heißt es in einem frühen Porträt über O'Neill: "Vor Jahren war er ein begabter Trinker. Es gab nämlich Zeiten, in denen er bei Jimmy the Priest vor dem Spundloch eines Whiskeyfäßchens schlief, und wenn Jimmy, der Besitzer, am nächsten Morgen zur Arbeit kam, entdeckte er, daß ein Achtel des Fäßchens ausgetrunken war... Die beliebteste Schnapsmarke der Bruderschaft... war außer dem Frühstückswhiskey der Bénédictine, und zwar gleich aus Bechern getrunken. Aber solche Hochgenüsse waren selten und Notbehelfe an der Tagesordnung. Alkohol mit Kampfer gemischt zeigte –wenn man sich an den Geschmack gewöhnt hatte- eine angenehme Wirkung. Auch mit Wasser verdünnte Möbelpolitur hatte ihre Vorzüge. Und es gab Tage, wo sogar Methylalkohol in kleinen Dosen unter Sarsaparilla-Sprudel gemischt, mit einem Hauch Feuerzeugbenzin für das gewisse Aroma in den Augen der Brüder gut genug war für jeden Mann, der kein Schlappschwanz war...

Vor vier oder fünf Jahren hat er dem Alkohol allerdings abgeschworen und hat das mit puritanischer Größe und Beharrlichkeit durchgehalten. Wie viele reformierte Trinker, betrachtet er das Glas Wein jetzt eher mit erhabenem Groll und ist bei Gelegenheit nicht abgeneigt, leidenschaftliche Tiraden gegen den Wein und seine Übel in die Welt zu setzen."
O'Neills Leben verlief nicht ohne persönliche Tragik: seine beiden Ehen wurden geschieden; ein Sohn war drogenabhängig, der andere brachte sich um; auch O'Neill unternahm einen Selbstmordversuch; und schließlich wurde er noch ein Opfer der Parkinsonschen Krankheit. Nur zu verständlich erscheint da der Griff zur betäubenden Flasche. Die Erinnerung an seine wüsteste Trinkerzeit in der Kneipe von Jimmy the Priest hat Eugene O'Neill jedoch grandios verarbeitet in seinem Schauspiel "Der Eismann kommt": hier weitet sich der Mikrokosmos des Säufers in einer Schnapshöhle zum Welt-Theater.

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Upton Sinclair outet in seinem Trinker-Report noch den amerikanischen Kurzgeschichtenerzähler Sherwood Anderson (1876-1941) und den amerikanischen Romancier Theodore Dreiser (1871-1945), aber William Faulkner (1897-1962) und Ernest Hemingway (1899-1961) finden keine Erwähnung, wohl weil beide noch lebten, als "The Cup of Fury" 1956 erschien.
Peter Nicolaisen schreibt in seinem Buch über William Faulkner, den literarischen Chronisten der Südstaaten, wo auch die Heimat des Bourbon ist:"Faulkner trank regelmäßig; ihm war das Trinken eine tägliche Gewohnheit und zugleich bei vielen Gelegenheiten eine Möglichkeit zur Flucht- vor anderen Menschen, vor dem Druck der Arbeit, vor den lästigen Pflichten aller Art. ...daß Faulkner zu exzessivem Trinken neigte, steht außer Frage. Wenn er sich entschieden hatte, für eine gewisse Dauer zu trinken –gewöhnlich plante er solche Phasen im voraus-, 'legte er sich einen Whiskyvorrat an und zog sich, nach einem Stadium der Ausgelassenheit, in sein Bett zurück, wo er weitertrank, bis er einschlief oder in einen Dämmerzustand versank. Wieder bei Bewußtsein, trank er weiter, bis er nach Tagen und Nächten langsam in die Welt zurückkehrte'. : Häufig waren Entziehungskuren notwendig, doch oft stand Faulkner die Phase der Entwöhnung auch mit eigener Kraft durch. ...Gibt es eine Erklärung für Faulkners übermäßiges Trinken?  ...sicher ist, daß Faulkner durchweg mit der Absicht trank, jegliches Bewußtsein auszulöschen. Nicht selten erscheint seine Art des Alkoholkonsums wie ein Akt der Selbstverleugnung und läßt einen an seine vehemente Diskreditierung der Biographie des Künstlers denken... Es ist immerhin denkbar, daß er den Alkoholrausch als eine besonders wirksame Möglichkeit betrachtet hat, sich der Welt auf seine Weise zu entziehen."

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"Der Alkohol in Leben und Werk des Schriftstellers Ernest Hemingway" lautet der Titel einer Dissertation, die Claudia Wankmüller-Kiefer 1989 an der medizinischen Fakultät der Universität Tübingen vorlegte. Die spannende Untersuchung beschäftigt sich mit der Spiegelung von Hemingways alkoholischem Trinkverhalten in seinem literarischen Werk und stellt den Lebenslauf des Autors unter tiefenpsychologischen Aspekten dar.
Ernest Hemingway entstammte einem bürgerlichen Middle-Class-Elternhaus, wo Pflicht & Ordnung herrschten. Ein geliebter schwacher Vater und eine dominante Mutter, die den kleinen Ernest in Mädchenkleidern aufwachsen ließ und zum Zwilling seiner älteren Schwester machte.
Im Alter von 18 Jahren lernte Hemingway, fern vom abstinenten Elternhaus, zunächst leichtere Alkoholika kennen: Rotwein und Bier, das gehörte zur Freiheit des Erwachsenseins, aber nur im Freundeskreis, in der Freizeit, nie bei der Arbeit- Schnaps ist Schnaps, und Dienst ist Dienst.
Bis Ende der zwanziger Jahre sah Hemingway im Alkohol für sich ausschließlich ein Genußmittel. Ab 1930 änderte sich dieses Trinkverhalten: Alkohol nachts als Schlafmittel und schon morgens Champagner oder Wein. Dazu Hemingway selbst: "Ich war eintausendfünfhundert und siebenundvierzig mal in meinem Leben betrunken, aber nie am Morgen."

Niemals hätte (und hat) er einen Kontrollverlust zugegeben, der eine empfindliche Störung des idealen Selbstbildes gewesen wäre, und so grenzte er sich auch lebenslang streng ab von den rummies, den Säufern.
Erste Leberschäden 1937, da  war Hemingway 38 Jahre alt. Ungezählte harte Drinks, um die grauenvollen Eindrücke des spanischen Bürgerkriegs ertragen zu können. 1942-44 führte Hemingway einen privaten "U-Boot-Krieg", begleitet von erneutem schweren Trinken. 1945 Rückkehr nach Amerika und vergebliche Versuche, das Trinken durch festgelegte Rituale zu reduzieren. Nach 1950 konnte Hemingway ohne Alkohol nicht mehr leben, was sich durch seinen Flugzeugunfall 1954 noch verschärfte: nun konnte er auch nur noch schreiben, wenn er unter Alkohol stand. Trinken ist zum Selbstzweck geworden.
Die genannte Autorin konstatiert in ihrer Arbeit: "In Hemingways Geschichten und Romanen wird auffallend viel getrunken. Bei der Analyse der einzelnen Personen werden verschiedene Trinkmuster und Bedeutungen erkennbar: Die idealen Figuren haben keine Probleme mit sich selbst oder mit dem Alkohol. Sie trinken je nach äußeren Umständen mäßig bis viel, ohne Überlegungen anzustellen und beherrschen das Trinken in jedem Augenblick. Für sie hat Alkohol eine soziale Funktion und die Funktion eines wertvollen Genußmittels wie Essen oder die Landschaft, in der man lebt. Die Idealfiguren wissen um die Funktion des Alkohols, haben ihn wohl –vielleicht früher- schon angewendet, aber brauchen ihn normalerweise nicht.

Einige Figuren sind traumatisiert durch ihre Vergangenheit im Laufe ihres Lebens an einem toten Punkt angelangt. Sie haben Schwierigkeiten mit sich selbst und ihrer Lebensgestaltung und wissen nicht, wie sie ihre Schwierigkeiten meistern sollen. Sie brauchen Alkohol zur Ablenkung und wollen mit Trinken das unangenehme Gefühl der Langeweile und des Lebensüberdrusses betäuben. Sie sind in einer Sackgasse angelangt nicht durch das Desaster einer Sucht, sondern infolge ihrer falschen Lebenseinstellung. ...Diese Leute trinken, um Erleichterung bei bestimmten psychischen Problemen zu finden. ...Verfolgt man die Trinkmuster dieser Helden nach der Entstehungszeit der Romane, lassen sich... Veränderungen feststellen: Im Laufe der Zeit trinken die Helden immer mehr."

Und ebenfalls analog zur eigenen Trinker-Karriere glorifiziert Hemingway im Frühwerk den Alkohol, hat zu ihm eine hedonistische Einstellung. Später zeigen seine Helden Skrupel im Umgang mit Alkohol, vergewissern sich immer wieder ihrer Unabhängigkeit von ihm, woraus man auf unbewußte Abwehrmechanismen auch des Autors schließen kann, der chronische Alkoholiker nur als kontrastierende Nebenfiguren zuläßt.
Hemingway ist eine hochgradig narzißtische (und also leicht kränkbare) Persönlichkeit gewesen, die sich schreibend, kreativ ein ideales Selbstbild phantasierte und Allmachtsgefühle auf der Jagd auslebte. Als dies nicht mehr funktionierte, auf Grund physischen Verfalls, geriet Hemingway 1959 in eine schwere depressive Verstimmung mit Wahnvorstellungen, möglicherweise im Sinne einer metaalkoholischen Psychose. Er begeht Selbstmord – wie der Vater- nach erfolgloser psychiatrischer Behandlung mit Elektroschocks, indem er sich mit einem Jagdgewehr erschießt.

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Exkurs: Daß es in Zusammenhang mit Alkoholismus häufig zum Selbstmord kommt, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Jack London und Ernest Hemingway sind keineswegs die beiden einzigen Schriftsteller, die als Alkoholiker sich umbrachten, wohl aber die bekanntesten. Erinnert sei noch an den polnischen Romancier Marek Hlasko (1934-1969), der in seiner Erzählung "Die Schlinge" die Zerstörung durch Alkohol schildert und an den österreichischen Lyriker Josef Weinheber (1842-1945), der in einem Brief –nicht ohne Weinerlichkeit- über sich schrieb: "Ich leide ja nicht nur an einem Hang zum Trinken, sondern bin seelisch krank, falle von einer Krise in die andere, zwischen dem Streben zum Guten und einem unseligen Trieb, mich selbst zu zerstören, hin- und hergeworfen... Dabei bin ich mir meines verachtenswerten Zustandes wohl bewußt..."

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Vier amerikanische Literaturnobelpreisträger und etliche andere amerikanische Autoren des 20. Jahrhunderts weisen das Vollbild eines Alkoholikers auf.² Abgesehen von der jeweils persönlichen Disposition und individuellen Biographie, begünstigen anscheinend die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA die Neigung zum Alkoholismus. Mutmaßlich wäre da zu nennen: ein wahrscheinlich von der Prohibition verursachtes kollektives Trockenheits-Trauma (das sich heute auch in skandinavischen Ländern beobachten läßt, wo Alkohol durch den hohen Preis zwangsläufig rationiert ist); dann eine schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Werbung und Film erreichte und allgemein höchstverbreitete Akzeptanz von Alkohol (zwei, drei Gas Vermouth bereits vor dem Lunch galten & gelten als durchaus gesellschaftsfähig), ja, geradezu ein gesellschaftlicher Zwang zum Alkoholkonsum (dem sich zu entziehen, auf Partys beispielsweise, Abstempelung zum Außenseiter bedeutet); begünstigend aufs Trinken dürfte auch ein amerikanischer Männlichkeitswahn gewirkt haben (zu dem harte Drinks –wiederum nach dem Ideal von Werbung und Film- gehören), der sich seit Wildwest-Tagen bis zu den Kriegssiegen jüngeren Datums anscheinend stetig entwickelt hat; und schließlich darf nicht der durch brutalen Konkurrenzkampf verursachte Streß in einer extremen Leistungs- & Ellbogengesellschaft vergessen werden, der sicher den Griff zur Flasche gefördert hat & fördert. In neuerer Zeit allerdings sind Mitteilungen über Alkoholexzesse transatlantischer Schriftsteller rar geworden (vielleicht, weil sie insgeheim stattfinden?). An der öffentlichen Trinkerfront hielt zuletzt ziemlich einsam die Stellung, in Wort & Bild, der in Andernach am Rhein geborene Deutschamerikaner Charles Bukowski (1920-1994).


Fortsetzung folgt!


© Niels Höpfner - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung des Autors