„Friedensfahrt“

Folge 1: Das Fahrrad als Symbol eines neuen Lebensgefühls

von Rudolf Engel

Rudolf Engel - Foto © Frank Becker
„Friedensfahrt“
 
Folge 1: Das Fahrrad als Symbol eines neuen Lebensgefühls
 
Weg der Freundschaft
Eine Art Epilog auf den saarländischen Dichter Rudolf Kammer
 
1949 war Autor dieser Tagebuchaufzeichnungen 18 Jahre alt, Internatsschüler im „Staatlichen Lehrerseminar des Saarlandes“ und unternahm in den Großen Sommerferien von Brotdorf aus mit seinem gleichaltrigen Schulfreund aus der Merziger Gymnasialzeit, dem Sekundaner Rudi Kammer, eine Fahrradtour durch Frankreich.

Die jungen Leute der entbehrungsreichen, im Saarland früher als im übrigen Deutschland zu Ende gehenden Nachkriegszeit waren von einer schier unbändigen Sehnsucht erfüllt, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln das Vergangene hinter sich zu lassen, über die engen Grenzen ihres kleinen Landes vor allem nach Westen zu streben, hinüber ins einstige Feindesland, das ihnen nunmehr in der frankophilen Tagespolitik ihres Heimatlandes als lebendiges Symbol demokratischer Freiheit angepriesen wurde.
Die erste Voraussetzung für eine solche `Tour de France´ war jene feste Jungenfreundschaft, die bereits auf dem Merziger Realgymnasium in den ersten Kriegsjahren begann und nach der Rückkehr aus dem getrennt erlebten `Bergungsgebiet im Herbst 1945 unvermittelt wieder auflebte.
Die Fahrräder und ein äußerst geringes Reisegeld hatten sich die beiden in der Hauptsache dadurch verdient, daß sie in den Großen Sommerferien der Jahre 1947 und 1948 bei der Bauunternehmung Klewerschorch beim Wiederaufbau im Bereich des sozialen Wohnungsbaues arbeiteten.
Als weitere Voraussetzung für eine begegnungsreiche Frankreichreise galt schließlich, daß in den weiterführenden Schulen des Saarlandes gleich nach dem Krieg Französisch die erste Fremdsprache wurde, sodaß die beiden Radreisenden imstande waren, sich einigermaßen mit den westlichen Nachbarn zu verständigen, was eine ihrer primären Absichten für diese Fahrt gewesen war.

Gleich nach Ende des Krieges ein Fahrrad zu besitzen war kein Luxus, vielmehr ein äußerst wichtiges Vehikel zum Überleben. Wer kein intaktes Fahrrad mehr hatte, war bestrebt, aus den materialen Überbleibseln des Großdeutschen Reiches einzelne Fahrradteile ergattern zu können, oft bloße alte Rahmen mit durchgefaulten Schläuchen und abgefahrenen Mänteln. Woran es erst recht mangelte, das war eine neue Bereifung.
Im Herbst 45 fiel mir die Idee mit der „Bunkerbereifung“ zu:
Ich war wieder auf dem Weg durchs Dorf hinüber zu unserer Obstwiese auf dem Reisberg, um nach dem Reifezustand der Äpfel zu schauen, die erste Ernte nach Kriegsende. Einige Bäume hatten durch Bordwaffenbeschuß und Granateneinschlag derart gelitten, daß sie inzwischen eingegangen waren oder zumindest keine Früchte mehr trugen. Die heil gebliebenen aber ließen eine gute, in dieser Zeit so notwendige Ernte versprechen.
Nun hatte es auf meinem Weg dorthin, ausgangs des Ortes in den `Breechkaulen´ nahe des `Eisborns´, einen durch die Alliierten gesprengten Westwallbunker gegeben. Diesen Bunker suchte ich beim Heimweg auf, in der Erwartung, noch irgendetwas Brauchbares finden zu können. Die Eingangsluke aus mächtig dickem Stahl stand weit offen. Im Innern mußten wohl die Alliierten eine derartige Ladung gezündet haben, denn der niedrige Flur war bis knapp unter die Decke mit Schutt, Steinen und Sand fast gänzlich zugeschüttet und unpassierbar. Ich wollte den grausigen Ort des Krieges schon verlassen, als ich im Türrahmen der Eingangsluke einen im Winde wedelnden gummiartigen Streifen herausragen sah. Es handelte sich um einen Zipfel der Türdichtung, die wahrscheinlich bei der Detonation ein Stück weit aus dem Rahmen gesprungen war.
Gummi gehörte zu den kostbaren Rohstoffen, die man für alles Mögliche verwenden konnte. Also zog ich kräftig an dem Zipfel, bis auch der Rest der Dichtung sich aus ihrer Fassung im Stahlrahmen löste. Bereits auf dem Heimweg kam mir beim wiederholten Betrachten des Profils der Gedanke, die Bunkerdichtung als Fahrradfelge verwenden zu können.
Tatsächlich erwies sich das Montieren der Bunkerdichtung auf die unbereiften Fahrradfelgen als eine gelungene Notlösung: Die aus einem besonders harten und strapazierfähigen Gummi bestehende Dichtung hatte eine rechteckige Sohle von ca. 3 cm Breite und 1,5 cm Dicke. Diese Sohle ließ sich mit etwas Nachdruck ganz gut mit der flachen Unterseite in die Radfelgen einklemmen, so daß sie, nach außen leicht gewölbt und hervorstehend, fest im Rahmen saß. Die damit erzielte Polsterung der Felge wurde noch dadurch erhöht, daß die Dichtung auf der Oberseite in der Mitte durchlaufend eine wulstartige Verstärkung aufwies, die in den Bunkern als Türpuffer gedient hatten, sich jetzt umso besser als Ersatz für die Luftbereifung auf meinem notdürftig zusammengebastelten Fahrrad eignete.

Beim ersten Fahrversuch kam mir die Idee, daß derartige Bunkerdichtungen sich ebenso für andere reifenlose Fahrräder eignen könnten.
Bevor ich mit den Bunkerdichtungen in den Tauschhandel ging, hatte ich mir genügend Vorrat aus den umliegenden Bunkern beschafft, und damit eine Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet, besaß sozusagen ein Monopol. Das Unternehmen erwies sich als nicht ganz ungefährlich, denn überall lagen noch Granaten herum, und einiges Gelände war auch vermint. Derartiges kümmerte einen in jener Zeit wohl kaum.
Als dann aber im Saarland mit dem Wiederaufbau auch das wirtschaftliche Leben ziemlich schnell aufzublühen begann, hatten die alten Bunkerbereifungen bald ausgedient. Bereits zwei Jahre später besaß ich ein selbstverdientes, nagelneues Fahrrad, ein Peugeot mit hellblaufarbigem Aluminiumrahmen, überleicht, mit schmalen Rennfahrerfelgen und einer Dreigangschaltung. Damit war erstmals die Möglichkeit geschaffen, nunmehr auch größere Radtouren über längere Strecken und selbst über Ländergrenzen hinweg zu unternehmen.
 
 
© Rudolf Engel 2015