Von der Hybris der Menschheit

Martin Ziegelmüller – „Rauch der Hexenfeuer / Teilchenbeschleuniger“

von Frank Becker

© Scheidegger & Spiess


Martin Ziegelmüller
 
„Rauch der Hexenfeuer / Teilchenbeschleuniger“
Zwei große Radierungszyklen Martin Ziegelmüllers
erstmals komplett veröffentlicht.
 
„Schwarz ist das Suchtmittel der Radierer und Drucker.“
Martin Ziegelmüller
 
Wer die Akribie des Zeichenstifts, die Präzision des Radierers, die erzählerische Wucht des Künstlers schätzt, ist bei Martin Ziegelmüller bestens aufgehoben. Der Schweizer Maler, dessen graphische Werkschau „Rauch der Hexenfeuer / Teilchenbeschleuniger“ in einer repräsentativen Ausgabe jüngst vom Kunstverlag Scheidegger & Spiess vorgelegt wurde, ist ein Meister dieses Genres.
 
Die triebhafte spätmittelalterliche Hexenverfolgung - eines der finstersten Kapitel des Christentums – und in Anlehnung daran die Greuel des erst 20 Jahre zurückliegenden Jugoslawien-Krieges einerseits und die Hybris der Wissenschaft, mit Hilfe des CERN die Erschaffung (aus christlicher Sicht) bzw. das Entstehen (aus wissenschaftlicher Sicht) des Universums, den Urknall zu simulieren andererseits, liegen den Radier-Zyklen Martin Ziegelmüllers zugrunde. Es ist in beiden Zusammenhängen ein gewaltiges druckgraphisches Unterfangen gewesen, dessen Dimensionen mit zahllosen Bezügen zu Literatur, Geschichte und Kunstgeschichte durch die Wiedergabe im vorliegenden Band sichtbar werden.

 
Zyklus 3, Nr. 647 - Fliegende Schatten - © Martin Ziegelmüller
 
Das brutale und grausame, fürchterliche Handeln der katholischen Kirche im Mittelalter und der frühen Neuzeit, bis ins 18. Jahrhundert hinein gegen vermeintliche Hexen, die triebhaft geilen „Befragungen“ der Opfer durch die Hexenjäger und das allzu oft sexuell motivierte obsessive Treiben der kirchlichen Männergesellschaft (man bedenke: bis heute wird die katholische Kirche von notgeilen, dem Zölibat unterworfenen Männern regiert) bei den Hexenprozessen sind nur zu begreifen, wenn man sie so deutlich wie möglich beschreibt. Martin Ziegelmüller hat sich damit, wie er im Interview bestätigt, dem Vorwurf des Voyeurismus stellen müssen und diesen nicht ganz von der Hand weisen können. Es ist zum Teil gewiß auch das tremendum fascinosum, das den Künstler antreibt. Die elf in diesem Komplex zusammengehörenden brillanten Radier-Zyklen sind in ihrer Kompromißlosigkeit ebenso schwer zu ertragen wie aber auch notwendiges Dokument. Die graphische Kunst scheint dafür am ehesten geeignet.


Zyklus 7, Nr. 701 - danach - © Martin Ziegelmüller
 
Die feine Beobachtung Martin Ziegelmüllers der Grundlagen und der philosophischen Aspekte des CERN, dessen Technik, Entwicklung und Pannen, sein Fokus auf die sichtbare Natur ringsum und ihre archäologische Geschichte sowie der Blick in die unendlichen Weiten des Alls bestimmen den aus acht Zyklen bestehenden Komplex „Teilchenbeschleuniger“. Auch hier wie beim vorigen Zyklus als Stilmittel oft die Verschmelzung von Mensch und Natur. Er hat die Bildfolgen so aufgebaut, daß man darin wie in einer Geschichte lesen kann. Was könnte uns erwarten, sollte das Experiment CERN tatsächlich gelingen? Viele Menschen lehnen es genau dieser Frage wegen ab, wollen nicht, daß der Deckel der Büchse der Pandora geöffnet wird. Die gewaltigen Dimensionen dieses Versuchs vermögen vermutlich nicht einmal die beteiligten Staaten und Wissenschaftler zu ahnen. Auch das wird durch Martin Ziegelmüllers faszinierende Radierungen deutlich, die von der Hybris der Menschheit erzählen. Ein phantastisches, dramatisches Buch, das unsere Auszeichnung wert ist: den Musenkuß!


Zyklus 9, Nr. 717 - Goethes Reise - © Martin Ziegelmüller
 

Martin Ziegelmüller -
„Rauch der Hexenfeuer / Teilchenbeschleuniger“
© 2015 Verlag Scheidegger & Spiess, 223 Seiten, gebunden, 26 x 21 cm, 258 farbige und 36 s/w-Abbildungen – ISBN 978-3-85881-477-7
58,- €
 
Weitere Informationen: http://www.scheidegger-spiess.com