Es war alles ziemlich harmlos

Konstatiert

von Karl Otto Mühl

Foto © Archiv Musenblätter

Es war alles ziemlich harmlos


Mein alter Nachbar, ein Studienrat aus Schlesien, sagt, daß sie zuhause immer Abstand zu den Nazis gehalten haben. Bei großen Ereignissen haben sie nicht wie die anderen Fahnen herausgehängt, sondern sie haben nur Papierfähnchen genommen. Juden kannten sie nicht, die wohnten nicht in ihrem Viertel. Aber von dem Wüten der SA in der „Reichskristallnacht haben sie schon gehört, aber nicht alles verstanden. Warum soll ich ihm nicht glauben?

Mein Freund Paul war ins Reichpropagandaministerium kommandiert. Es war Krieg, wegen seines Herzleidens brauchte er nicht zum Militär, und er war auch erst Achtzehn. Er sagt, er habe unten im Keller Akten abheften müssen. Ihm glaube ich. Außerdem hat er heimlich englische Sender und Jazz-Musik abgehört. Aber sonst hat er nichts „mitbekommen“ Ich glaube ihm.

Meine Tante Hedwig, sie ist 99 und lebt noch, war ins Reichsluftfahrtministerium abkommandiert. Die Mappen mit den Geheim-Dokumenten gingen durch ihre Hände, aber auch alle anderen Sekretärinnen hatten Zugang dazu. Nur nach außen durfte nichts dringen. Sie weiß nicht mehr, was in den Dokumenten stand, aber es waren „Sachen, die nicht in der Zeitung standen“.

Auf die Frage, was sie nun gemacht habe, antwortet  sie, es seien belanglose Dinge gewesen, Listen, Aufstellungen über Lebensmittel, Erbsen und Möhren, nur so was. Warum soll ich ihr nicht glauben? Es gibt ja kein Limit für die Anzahl der Ämter, die man schaffen kann, selbst im Kriege.

Wie oben gesagt, fanden sie alles ziemlich harmlos. Bis auf den Tag, an dem Pauls Elternhaus durch die Bomben zerstört wurde, die Eltern kamen um. Und Tante Hedwig war ziemlich schockiert, als sie erfuhr, daß zwei ihrer Kolleginnen geköpft wurden. Sie weiß nicht warum, sie hätten „irgendwelche Verbindungen nach draußen“ gehabt. Seitdem war es für Paul und Tante Hedwig nicht mehr harmlos.

Am Tag nach dem Bombenangriff sah Paul ein provisorisches Plakat an einem Baum hängen:
„Als Vergeltung für den gestrigen Angriff sind heute 25 000 deutsche Fallschirmjäger bei London abgesprungen“.

Das glaubte man weder im Luftfahrt- noch im Propagandaministerium.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008