Der alte Mann 8

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der alte Mann 8
 
Der alte Mann ging mit seinen Hund spazieren. Der graue Paderborner Himmel ließ nicht darauf hoffen, daß es bald Tage geben würde, an denen man kurze Hosen tragen könnte. Der alte Mann hielt es sowieso für zweifelhaft, daß es mal Tage geben könnte, an denen er eine kurze Hose tragen würde. Er stand gerade vor dem Schaufenster von Klingenthal, als er Alfred in kurzen Hosen vorbei hasten sah. Sein Freund Alfred war nicht sehr groß, deswegen gab er in kurzen Hosen nicht so viel preis. Der alte Mann hatte seinen Freund gefragt, ob er ihn beim Hosenkauf beraten könnte. Er lief schon so lange mit seinen Breitcordhosen herum, daß er sich ein wenig verändern wollte.
Als könnte Alfred Gedanken lesen, sagte er: „Kurze Hosen sind total im Kommen. Auch der reifere Mann kann so an warmen Tagen das Licht der Öffentlichkeit suchen.“
 Der alte Mann schüttelte den Kopf. Auch im Schaufenster von Klingenthal war der Massengeschmack präsent. Man sah dort Schützenuniformen mit kurzen Hosen, Hochzeitsanzüge mit Baggy-Shorts und Priesteranzüge im Kolonial-Look mit Khaki-Shorts.
„Probier es aus“, sagte Stilberater Alfred. „Kurze Hosen lassen dich jung und sportlich erscheinen.“  
Sie fuhren mit dem Aufzug in die zweite Etage, wo sich die modisch interessierte Männerwelt zum Austausch traf. Der alte Mann drückte seinem Freund Alfred die Hundeleine in die Hand sprach einen der Verkäufer an.
„Entschuldigung“, sagte der alte Mann, „ich würde gerne...“
„Sagen sie nichts“, sagte der Verkäufer und schaute auf die Beine des alten Mannes. „Sie wollen kurze Hosen tragen, oder? Gehen sie schon mal in eine der Umkleidekabinen. Ich reiche ihnen einige Kostproben herein, die ihre Beine optimal zur Geltung bringen werden.“
Der alte Mann verschwand hinter dem Vorhang einer Umkleidekabine. Ihm war mulmig zumute. Was war, wenn ihn einer in den kurzen Hosen sehen würde? „Nie riskierst du was“, hatte seine Frau ihm immer vorgeworfen. „Du würdest auch einen Sack tragen, wenn ich den für dich herauslegen würde.“
Sie hatte recht. Er war kein Trendsetter und sein Interesse an der neuesten Mode hielt sich in Grenzen.
„Hier kommen einige Bermudas in Pastelltönen“, unterbrach der Verkäufer seine Gedanken und   hielt ihm drei Beinkleider hin. Der alte Mann schaute skeptisch über den Vorhang. Sein Freund Alfred stand mit dem Hund vor einem Kleiderständer und ging die dort aufgereihten Hosen durch.
Der alte Mann stieg aus seinen Schuhen, zog seine Cordhose aus und streifte sich eine der kurzen Bermudas über. Er schaute sich im Kabinenspiegel an. War das modern, was er dort sah? Würden sich die Frauen nun wieder nach ihm umdrehen? Er entdeckte die Narbe an seiner Kniescheibe, die er bekommen hatte, als er als Siebenjähriger mit dem Fahrrad gestürzt war.
Sein Hund bellte. Er stieg schnell wieder in seine Sandalen. „Na wie sieht´s aus?“, fragte der Verkäufer auf der anderen Seite des Vorhangs.
„Ich weiß nicht“, sagte der alte Mann. „Gibt es auch kurze Cordhosen?“
Der Verkäufer schaute über den Vorhang und klatschte in die Hände.
„Ich habe es immer gewußt“, gluckste er. „Paderborner Männer können alles tragen.“
Alfred war neugierig geworden und zog den Hund zur Kabine. „Nun komm mal heraus. Laß mal sehen.“
 Der alte Mann öffnete den Vorhang und trat heraus. Er ging so selbstverständlich wie möglich zu einem der großen Spiegel, warf einen Blick auf seine Beine und schloss die Augen.
„Ich schäme mich.“
Alfred bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
„Sie müssen sich natürlich die Sandalen mit den weißen Socken wegdenken“, stammelte der Verkäufer.
Alfred schüttelte den Kopf und wußte nicht, ob er lachen durfte.
„Wann haben denn deine Beine das letzte Mal das Licht der Öffentlichkeit gesehen“, sagte er. „Sie werden ja rot, wenn man sie anblickt.“
Der alte Mann öffnete wieder die Augen und schaute sich im Spiegel an. Seine kahlen weißen Beinchen ragten wie Kreidestifte aus den kurzen Hosenbeinen. Wo waren seine Waden?
„Grundsätzlich sollten Shorts im Bermuda-Stil getragen werden. Das bedeutet: Nicht zu kurz, der Hosensaum endet etwas über dem Knie“, mischte sich der Verkäufer ein.
Plötzlich lachte der alte Mann. Er ging vor dem Spiegel hin und her und lachte.
„Sollte unser Bürgermeister als Stil-Ikone mit kurzen Hosen zum Empfang einladen, bin ich auch mit solchen Shorts dabei, ansonsten erspare ich aber meiner Umwelt diesen Anblick und altere weiter in langen Breitcordhosen“
So erlebte die Kurzhosenbewegung an diesem Paderborner Tag einen herben modischen Rückschlag. Man hat auch danach Alfred nie wieder in kurzen Hosen gesehen. Was nur wenige Menschen wirklich bedauert haben.
 

© 2016 Erwin Grosche