„Feinsliebchen“ -
Fahnenwort der Romantiker für das Deutsche und „Blaue Blume unter den Wörtern“?
Von Heinz Rölleke
Matthias Heine, studierter Germanist und seit 2010 Zeitungsredakteur, beteiligt sich an der derzeitigen Diskussion über eine Umschreibung des Begriffs „deutsch“ mit einem sprach- und literarhistorischen Beitrag (DIE WELT, 22. März 2016). Achim von Arnim und Clemens Brentano, heißt es da, hätten 1805/1808 in ihrer Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ mit dem Wort
„Feinsliebchen“
die „Blaue Blume unter den Wörtern … gezüchtet“, ein „Signal … ein Zauberwort, dessen Nennung den Traum von einem schöneren Deutschland beschwört“. Die diminutive Umschreibung für die Geliebte bezeuge, daß „die Frau der Inbegriff des Deutschen“ sei, wie es später auch Hoffmann von Fallersleben in Worte gefaßt habe, in dessen hymnischem „'Lied der Deutschen' von Männern keine Rede“ sei, genannt würden stattdessen „Deutsche Frauen, deutsche Treue“.
Das ist eine waghalsige These, deren wackelige oder fehlende Fundamente bei näherem Hinsehen rasch deutlich werden.
„Mindestens sechsundzwanzigmal kommt Feinsliebchen in 'Des Knaben Wunderhorn' vor“ - die suggerierte Genauigkeit führt in die Irre, denn tatsächlich begegnet uns das Wortfeld „Feinslieb“ in 33 der 723 „Wunderhorn“-Gedichte; das sind immerhin 4,5%, aber immer noch viel zu wenig, um dem Begriff eine zentrale Rolle zuschreiben zu können, zumal Jacob Grimm, dessen literarische und wissenschaftliche Anfänge fast ausschließlich durch die „Wunderhorn“-Sammlung und die sogenannten Heidelberger Romantiker Arnim, Brentano und Görres geprägt waren, 1862 in seinem „Deutschen Wörterbuch“ unter dem Lemma „fein“ lediglich einen einzigen Beleg für „feinsliebchen“ aus dem „Wunderhorn“ anführt. In der 9. Auflage (1992) des Paul'schen Wörterbuchs, an der Matthias Heine selbst mitgearbeitet hat, findet sich der lakonische Eintrag: „'Feinsliebchen' Ende 18. Jh. (Bergliederbüchlein) nach älterem 'Feinslieb' (16. Jh., Bürger) von ca. 1808 als 'niedrig' bezeichnet.“ Das als Textzeuge angeführte Liederbuch erschien allerdings nicht erst um 1800, sondern bereits hundert Jahre früher; die ältere Wortform begegnet im „Ambraser Liederbuch“ von 1582 um die fünfzig mal, und ihr wird 1776 von Gottfried August Bürger „rostiges Colorit“ attestiert, während Friedrich Schlegel mit dem Wort stereotyp ein „treuloses Liebchen“ bezeichnet sieht. Für die These, „Feinsliebchen“ stehe irgendwie für „deutsch“, hätte man also in den reicheren älteren Belegen (frühestens übrigens schon im 14. Jahrhundert) Bestätigung suchen müssen, indes wohl nicht finden können, denn diese zielen indes meist auf leichtlebige, zuweilen sexuell besonders freizügige und nicht eben durch „deutsche Treue“ ausgezeichnete junge Frauenzimmer. Der Wörterbucheintrag von 1992, „Feinslieb“ gehöre seit 1808 (also seit dem Erscheinen der abschließenden „Wunderhorn“-Bände) der 'niedrigen' Sprechart an, ist nicht ganz falsch, irrt sich indes in der Datierung um mindestens 200 Jahre.
Arnim und Brentano haben das Wort „Feinslieb“ stets getreu aus ihren Quellen in ihre Liedersammlung aufgenommen, an keiner Stelle eigenmächtig eingefügt. Eine „literarische Strategie“, wie sie Matthias Heine vermutet, oder gar ein 'Züchten' des Wortes als Blaue Blume ist also keinesfalls durch die Romantiker gegeben, schon gar nicht eine Identifikation der in Rede stehenden Bezeichnung mit deutschem Wesen.
Das im „Wunderhorn“ aus Zeugnissen quer durch die Jahrhunderte zugekommene feine Liebchen tummelt sich in der romantischen Liedersammlung als ein zunächst lebens- und liebeslustiges, dann zumeist melancholisches Wesen, auf dessen Treue nicht immer Verlaß zu sein scheint. So wird Feinsliebchen denn auch von einem ihrer temporären Liebhaber als „kindisch genug“ charakterisiert („Kinderey“). In der Wahl ihrer Buhlschaft ist manches dieser Mädchen nicht zimperlich; sie erschrecken erst, wenn sie einsehen, daß „der böse Feind“ diesen mit Sicherheit bald an den Galgen bringen wird („Icarus“). Über sich selbst klagen sie fast stereotyp am Ende entsprechender Lieder, sie hätten leichtfertig ihre „Ehre … verschlafen“, so etwa die eine, die erkennen muß, daß der zu ihrem Rendezvous verspätet eingetroffene Hallodri den ersten Teil der Liebesnacht „bey Bier und Wein, wo Jungfern seyn“ (also in einem Bordell) verbracht hat („Das Wiedersehen am Brunnen“), oder ein anderes Mädchen, von dem es ohne weitere Begründung heißt: „Ich hör ein feines Lieb klagen,/ Klagen, es hätt' die Ehr verloren“ („Erinnerung beym Wein“). Wenn der Liebste es ausnahmsweise ernst mit seinem feinen Liebchen meint, endet das zumeist tödlich: Er zieht ein „Messer“ und „stachs seiner Lieben durchs Herze … So geht’s./ Wenn ein Mädel zwei Knaben lieb hat“ („Der eifersüchtige Knabe“; genau so im Lied „Schwimm hin“). Feinsliebchen „wollt nicht trauen auf sein Wort … Der Schuß schlug sie darnieder“ („Vertraue“). „Kaum hätt sie das Wörtlein ausgesagt,/ Ihr Häuptlein auf der Erden lag … Er … schlenkert sie hinter den Hollerstock: 'Da liege feins Liebchen und faule'“ („Liebe ohne Stand“).
Schließlich behauptet der Artikel in der WELT, der Begriff „Feinslieb“ im „Wunderhorn“ sei „ein Zauberwort, dessen Nennung den Traum von einem schöneren Deutschland beschwört.“ Es sei „dieses Land der Seele“ von Arnim und Brentano ganz anders vorgestellt, „als wir uns heute die Romantik zurechtkastriert haben“, denn es werde „Sexualität recht offen angesprochen“. Nun ist es seit langem kein Geheimnis mehr, daß (zumal alte) Volkslieder alles andere als prüde sind. Diese Tendenzen wurden im „Wunderhorn“ also keineswegs neu eingebracht oder auch nur besonders betont – im Gegenteil, wie ein drastisches Beispiel erweisen kann. Nach einem anonymen Fliegenden Blatt unbestimmten Alters nahm Brentano 1808 ein derbes Volkslied unter dem Titel „Schlittenfahrt“ in die Sammlung auf, kürzte, veränderte und verharmloste es wie zu seiner Zeit üblich, ohne indes für den Kenner die eigentlichen Intentionen des obszönen Liedes von den anscheinend wohlfeilen feinen Liebchen ganz zu verwischen. Einige Auszüge im Paralleldruck können das ohne weiteres erweisen.
Quellentext Wunderhorn-Fassung
Das vns der Winter nit stet wil sein Daß uns der Winter nicht steht will seyn,
dz trauren die medlen sere Des trauren die Mädlein gar sehre;
… ...
so faren mir mit schalle So fahren wir mit Schallen
die geslen allent halbe die Gäßlein allenthalben,
feinß lieb laß dirß gefallen Feins Lieb, laß dirs gefallen.
...
Ach feinß mein lieb so spar mich nit Ach feins mein Lieb, so spar mich nit,
ich bin dar zu gewachsen Ich bin darzu gewachsen.
nym die bristlen (Brüstchen) in die hand Nimm nur dein Müfflein (kleinen Muff) in die Hand,
die fieß (Füße) wol yber die achsel Ich schau dir über die Achsel,
so faren mir gen angster stam Weiß zugeschneites Osterlamm
so bringt man vns den arß (Arsch) in Mein Rößlein rasselt mit dem Kamm.
Schwanck (Schwung)
Ach feinß mein lieb so spytz dein füß Ach feins mein Lieb, nun spitz die Füß, wol auff mit mir zum tantze Wohl auf mit mir zum Tanze,
vnd mach mir die redlen vmb vnd vmb Zieh mir die Rädlein um und um
(umkreise mich), vnd drit mir nit auff den schwantze Mit deinem Schleppenschwanze;
vnd mach mirs da hinden als da fornen Und schwenkst du mirs nit in die Sporn,
so setz ich dir ain krentzlin auff die oren Setz ich ein Kranz dir auf die Ohr'n
…
Ob einer kem der murren wolt Ob einer käm, der murren wollt,
mir wolten nyx drum geben Wir wollen nichts drum geben,
so muß es dennet gestochen sein Es muß vorbei gestochen seyn,
vnd kost es leyb vnd leben Und kost es Leib und Leben,
…
feinß lieb ich muß mich schayden Feins lieb, ich muß mich scheiden.
Für die verfänglichen und mehr ein- als zweideutigen Worte und Szene bei Schlittenfahrt und Tanz verlangt das feine Liebchen als Preis „ein gespiegeltes (glänzendes) Roß,/ Dazu ein gemahlten Schlitten“ - ob sie ihn oder ob der winterliche Liebhaber die sprichwörtlich kalten Füße bekommt und sich rasch verabschiedet, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit.
Man kann das alles und noch viel mehr nachlesen in der maßgeblichen „Wunderhorn“-Ausgabe (6 Bände, herausgegeben von Heinz Rölleke, Stuttgart u.a. 1975-1978). Dort findet sich insgesamt so gut wie nichts, was die Thesen des WELT-Artikels über deutsches Selbstverständnis damals und heute stützen könnte.
Redaktion: Frank Becker
|