Das Paradox der Heimat (2)

von Andreas Steffens

Dr. Andreas Steffens - Foto © Frank Becker
Andreas Steffens
 
Fremdsein und Selbstwerden
Das Paradox der Heimat
 
Fast noch wichtiger als dieses unerläßliche Moment der Ferne aber ist das andere von Fontane hervorgekehrte: die Erinnerung - Heimat ist nicht, worin wir leben, sondern, woran wir uns erinnern. Mehr noch: woran wir uns erinnern müssen, ohne daß wir wüßten, daß es sich dabei um Erinnerung handelt, weil Heimat das kollektive Gedächtnis ist, der gesellschaftliche Speicher aller Urfertigkeiten, derer wir als Menschen zur Aufrechterhaltung unserer Lebensfähigkeit bedürfen. In seiner Heimat kann niemand aus Unkenntnis des Lebens zugrundegehen: sie weiß immer schon für ihn und alle Menschen, die sie hervorbringt, was jeder wissen muß, und hält es für ihn bereit.
Als Gehalt gebundener Erinnerung von uns auf allen Wegen mitgeführt, verdichtet Heimaterfahrung sich in den geweckten Erinnerungen, indem sie in einen Zustand einverständiger Weltverbundenheit versetzen. Denn dieses Welteinverständnis ist eben der Gehalt der Erinnerung: wir erinnern uns nicht so sehr an Vergangenes, als an die damit verbundenen Empfindungen eines momentan glückenden Lebens. Deshalb neigt Erinnerung zu Verklärung.
Heimat enthalten diese Empfindungen, wenn sie so geartet sind, daß wir in Übereinstimmung mit uns selbst und dem Leben in unserem Weltausschnitt an der Tatsache des Geborenwordenseins nichts zu rechtfertigen finden. Heimat ist das Empfinden einer elementaren Zustimmung zu dem einzigen Faktum unserer Existenz, das vollkommen unbeeinflußbar ist: daß es uns überhaupt gibt. Denn wir sind ihre Produkte. Heimat ist die Summe alles dessen, was zusammenkam, um uns hervorzubringen.
Eine Heimat also hat jeder; sie erfahren aber kann nur, wer Bekanntschaft mit der Fremde machte. Denn die Fremde ist die Erfahrungsstimmung, in der die Welt in ihrem Urverhältnis zum Menschen erlebt wird.
Das führt auf das eigentliche Verhältnis von Heimat und Welt, das sich als umgekehrt zu der Gewissheit erweist, in der es gewöhnlich in den Vertrautheiten unangefochtener Heimatlichkeit erlebt wird.
Denn der Bezug zur Herkunft, der am engsten mit Heimat verbunden scheint, ist mit deren Gegenpol, der Fremde, enger verknüpft, als angenommen. Am gefährdetsten ist, wem ein durch Herkunft angestammter Ort zugleich die Welt ist. Je weniger heimatgebunden einer ist, desto weltfähiger; je weltgebundener einer ist, desto heimatfähiger wird er sein.  Weltfähigkeit macht ortsunabhängig. Wer Heimat haben will, muß sich in der Welt verankert haben.
Das ist ihr Paradox: man muß sie aufgeben, um sie zu gewinnen; sie hinter sich lassen, um in ihr anzukommen.
Sich in der Welt verankern, heißt, dem eigenen Leben mit Bewusstsein jene Gemeinschaft mit anderen zu verleihen, ohne die ein Menschenleben nicht möglich ist, wie Albert Camus es - in einer Rede über den >Künstler und seine Zeit< anläßlich der Verleihung des Nobelpreises im Dezember 1957 in Uppsala – beschrieb. Meer, Regen, Bedürfnis, Verlangen, Kampf gegen den Tod, das sind die Dinge, die uns alle verbinden. Wir gleichen uns in dem, was wir zusammen sehen, in dem, was wir zusammen leiden. Die Träume ändern sich mit den Menschen, aber die Wirklichkeit der Welt ist unsere gemeinsame Heimat.
 
Heimat gibt es, wenn es gemeinsame Welt gibt; erfahrbar wird sie, wenn das anthropologisch Gemeinsame des Menschseins lebenskonkret wird: indem ein ‚Wir’ entsteht, dessen Eigenart in Rückblicken geteilter Nostalgien hervortritt, wenn ihre Wirklichkeit selbst sich längst wieder aufgelöst haben wird: Heimat hat, wer die Gemeinsamkeiten an Traditionen und Bräuchen in den Assoziationsketten und Anekdoten des ‚Wißt ihr noch’ in vertrauter Runde vergegenwärtigend heraufbeschwören kann.
Man kommt nicht durch Heimat zur Welt, sondern umgekehrt durch Welt zur Heimat. Nur deshalb ist es möglich, den Verlust von Heimat als Realkomplex individueller Daseinsbedingungen zu überleben. Wer Welt hat, kann Heimat entbehren, weil er anderswo eine andere finden kann.
Davor aber steht eine der schwierigsten Erfahrungen, denen wir ausgesetzt sein können, die Erfahrung der Fremde. Sie ist darum so einschneidend und verstörend, wenn sie nicht auf der Freiwilligkeit etwa einer touristischen Reise beruht, weil sie für den, der sie macht, die Ursituation des Menschen wiederherstellt, die Gottfried Benn als die Weltfremde bezeichnete – jene tiefe, schrankenlose, mythenalte Fremdheit (...) zwischen dem Menschen und der Welt.
Die Fremde macht Heimat nicht nur erlebbar und verständlich; sie macht sie vor allem notwendig, indem sie zugleich die Gattungserinnerung an diese Urfremdheit aktiviert. Die Fremde selbst nämlich ist jene Ursprünglichkeit, als welche die Heimattümelei Heimat nur ausgibt. Heimat ist als Lebensphänomen anthropologisch das Sekundäre: für ein Menschenleben zwar notwendig, ist sie dennoch ein Phänomen der Reaktion: mit ihrer Einrichtung reagiert das Menschsein auf die Urbedingung seines Daseins in der Welt. Diese aber macht sich in der Erfahrung der Fremde bemerkbar.
Das Problem möglicher Heimat ist eine Facette des grundlegenderen Problems möglicher Welt. Es stellt sich für das Gattungswesen des Menschen mit jedem Exemplar aufs neue, weil Menschen die einzigen Lebewesen sind, die auf ihr Dasein in der Welt mangelhaft vorbereitet sind: die Welt hat uns nicht vorgesehen; als das ‚Mängelwesen’ schlechthin läßt sie uns nur als eine ihrer Seinsmöglichkeiten zu. Ob und wie wir sind, ist auf Dauer ausschließlich Sache unseres Gattungsinteresses.
Als Einrichtung der menschenneutralen und ursprünglich feindlichen Welt zu ihrer Bewohnbarkeit, zum Medium unseres Daseins, ist Kultur deshalb stets gefährdet. Es gibt sie nicht ein für allemal. Sie kann immer wieder verloren gehen. Weniges hat das in unserer Zeit so unbezweifelbar gemacht wie gerade die Massenerfahrung des Heimatverlustes in der Epoche der Weltkriege als unmittelbare Folge der Gewaltpolitik. Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal, hatte der um große und größte Perspektiven nie verlegene Martin Heidegger 1946 in seinem berüchtigten >Brief über den Humanismus< der beginnenden Nach-Weltkriegsepoche die vorauseilende Diagnose gestellt (27; NA 30).
Die Heimatlosigkeit wird unbehebbar, zum ‚Schicksal’, wenn sie eine Erscheinungsform der Weltlosigkeit ist. Das Problem der Heimat ist ein Problem des Weltbezuges, ein Problem der eigenen Weltverträglichkeit. Nur wer in die Welt, in die er geboren wurde, paßt, sich in sie fügt, kann Heimat haben. Darin ist das tiefste Unglück jeder Emigration, jeder Vertreibung angelegt, mit dem Ort, den man verlassen muß,  auch die Welt zu verlieren, und sie dort, wohin man verschlagen wird, nicht wiederzufinden. Das widerfährt besonders dem Vertriebenen, der nur seine Heimat kannte, und sie für die Welt hielt.
Nach den Schrecken absichtsvoller Vernichtung ungezählter Millionen von Menschenleben, deren Daseinsrecht in der Welt um nichts geringer war als das derjenigen, die das Völkerschlachten betrieben, und derer, die es überlebten, ist diese elementare Bedingung des Daseins, der Weltbesitz selbst in seiner Möglichkeit erschüttert. Nun garantiert die Heimat nicht mehr die Welt, da niemand mehr sicher sein kann, seine eigene Heimat nicht zu verlieren. So wenig ist die zugeborene Heimat mehr Weltgarantie, daß die Welt nun umgekehrt zur Zuflucht notwendiger Heimat wird.
Zu unabsehbar großem Nachteil für das Zusammenleben von ‚Einheimischen’ und ‚Fremden’ in unserer Gesellschaft ist bisher übersehen worden, daß diese Drohung als ein latentes Erbe der Geschichts-Katastrophe, die Europa zusammen mit der Idee des Menschseins, auf der es beruhte, zerstörte, ein untergründiges, doch wesentliches Motiv aller Äußerungen von ‚Fremdenfeindlichkeit’ ist. Sie entsteht immer dann verstärkt, wenn ein Verlust heimatlicher Lebensformen unbewältigt bleibt. ‚Eigenes’ zu verlieren, kann ‚andere’ zu Feinden machen, ohne daß diese mit dem Verlust in der geringsten Beziehung stehen müssten; ebenso, Eigenes noch gar nicht besessen, sondern erst ersehnt zu haben.
So wird der Begriff der Heimat anthropologisch faßbar als Inbegriff für eine Erfahrung, in der sich in einem einzelnen Menschen die Fähigkeit des Menschen als bewährt erweist, das elementare Defizit des Menschseins in der Welt wenigstens zu überbrücken, wenn nicht zu beheben. Da die Weltbedingungen unseres Daseins aber diejenigen sind, auf die es den geringsten Einfluß hat, verharrt die Erfüllung dieser Aufgabe, die Kultur ist, in einem Zustand dauerhafter Vorläufigkeit.

Versteht man Heimat als Begriff dieser unablässig vorläufigen Leistung, so bezeichnet sie etwas, das es zwar immer schon gibt, weil es ohne dieses Menschenleben nicht gäbe, das aber dennoch immer bevorsteht, weil das Urproblem nicht bewältigt werden kann.
Es war diese Einsicht, die Ernst Bloch dazu bewog, ‚Heimat’ zum - buchstäblich - letzten Wort seines monumentalen, in der amerikanischen Emigration in New York zwischen 1938 und 1947 geschriebenen, Hauptwerks >Das Prinzip Hoffnung< zu machen, und diese andauernde Vorläufigkeit aller Menschenleistungen diesem Geschichtsentwurf ihrer möglichen Verbesserung zugrunde zu legen.
Mit diesem Blick also gilt: Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat (Bloch, Hoffnung, Bd. 3, 1628).
Sie wäre die wirkliche Erfüllung der Hoffnung. Wo Heimat wäre, bliebe zu hoffen nichts übrig. Eine Menschheit jedoch, die sich die Hoffnung zum Prinzip ihres Weiterlebens wählen muß, ist noch heimatlos.
Heimat, wie wir sie erst kennen, gibt wenig zu hoffen; aber sie bewahrt vor vielem, das Hoffnung immer wieder notwendig macht. Mit ihr läßt sich nur schlecht leben; ohne sie aber fast gar nicht.

Dieses Paradox begleitet jedes neu geborene Menschenleben. Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben, hatte Jean Améry die unsere Epoche bestimmende Erfahrung des aus der Gemeinschaft der Menschen Verstoßenen gekennzeichnet.
Diese aber stellt sich immer dann wieder her, wenn menschliche Handlungen Fremdheit zwischen Menschen setzen. Dann entsteht jene Verlassenheit, die Hannah Arendt als den anthropologischen Grund jedes politischen Systems der Unfreiheit beschrieb. Der Verlassene ist wieder der Mensch im Urzustand jener Gleichgültigkeit der Welt, gegen die die ganze Menschheitsgeschichte aufgeboten werden mußte, um sie aus den Unmittelbarkeiten des zivilisierten Lebens zu verbannen, wie es uns noch einmal zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Als Selbsterfüllung des Menschseins gegen die Gleichgültigkeit der Welt wäre es das Kennzeichen verwirklichter Heimat, weder den Fremden, noch die Fremde mehr zu kennen, in denen die Verlassenheit unablässig lauert - : so bleibt sie der utopische Horizont der Kultur als der unablässigen Verwandlung der Welt zur Stätte der Menschenmöglichkeit.
 
Fest-Vortrag im Wolfgang-Bonhage-Museum Korbach, gehalten am 07. März 2008, anläßlich der Eröffnung des Raumes >Erinnere dich jetzt< von Thomas Henke
 
© 2008 Andreas Steffens
Für die Veröffentlichung in den Musenblättern vom Autor durchgesehen und gekürzt.