Maler und Pilze

von Karl Otto Mühl

Maler und Pilze
 
Wir haben unseren alten Malerfreund zum Einkauf von Mal- und Zeichenmaterial begleitet und sind mit ihm zu einem regional bekannten Spezialgeschäft gefahren. Da sind wir mit einem großen Korb durch den riesigen Verkaufsraum geschlendert und sahen zu, wie er hier eine Tube mit Spezialfarbe, dort eine ganze Blechdose mit Farbe und einen Skizzenblock in der Korb warf.
Zwischen den Gängen Verkäuferinnen, manche nicht mehr jung, aber allen sah man ihre Kunstsinnigkeit an. Und das ganze Verkaufspanorama war voll verlockender Angebote, Rahmen in Dutzenden von Ausführungen, Farben, Stifte, ein ganzes, endloses Regal voller Aufhängevorrichtungen für Bilder – ich konnte mir nichts ausdenken, was es auf dem Malgebiet hier nicht gegeben hätte.
Ich schaute mich angestrengt um. Gab es vielleicht etwas, das mir zwar nicht einfiel, das ich aber unbedingt brauchte? Alles verlockte zum Kaufen.
 
Unser Maler, der am Stock geht, durfte bei der Rückfahrt vorne neben meiner Frau sitzen. Ich machte es mir auf dem Rücksitz bequem. Während die beiden vorne parlierten, sang es zwischendurch aus dem Autoradio.
Ich geriet langsam in einen Halbschlaf, der mich aber nicht hinderte, leise vor mich hin zu brummen …. auftauchende, Fragmente der Radiomelodie …
 
„Süßes Schweben,
süßes Erleben
führen den Weg
ins Himmelreich.
 
Unter Küssen
Werden wir wissen,
daß diesem Reigen
keiner gleicht.“
 
aus Schnitzlers Reigen, das heißt, die Straus-Melodie aus dem Ophüls-Film.
 
Das eintönige Motorengeräusch und die vertraute Melodie produzierten Bilder. Federleicht tanzten die Paare an mir vorbei, schwebend und aus der Senkrechten geneigt, verzückt und träumend. Sie schwebten in der Musik.
Alle Individualität war von ihnen abgefallen, die Frauen signalisierten Lieblichkeit und Hingabe. Nichts war mehr zu sehen von ihren Möglichkeiten der Gekränktheit, Abweisung, Schärfe, Berechnung.
In meinem Träumen spürte ich süße, traurige Ohnmacht. Vielleicht waren wir kreisende Himmelskörper, aber eines blieben wir: Tänzer, ohnmächtig.
Unser Auto stieß auf einen Stau, manchmal bremsten wir ruckartig. So kam ich aus dem Traum zurück in die Wirklichkeit: Ein unsicheres Gefühl blieb. Was war nun mit der Liebe in der Realität? Gab es da nur Ernüchterung?
Aber ich geriet immer wieder in meinem Traum. Ich sah, die Menschen in ihrer Realität waren nicht so weit von den Tänzern entfernt.
Ich hörte Stimmen: Die Verlassenen, die Gekränkten, die Menschen am Bett ihres sterbenden Partners, auch die Altgewordenen, Einsamen – aber ihre Stimmen waren die angstvoller, kleiner Kinder, die nach Liebe und Schutz suchten, ich spürte ihre Ängste, ihre Ohmmacht; und da war kein Trost und da war keine Hoffnung, bloß, ich konnte ihnen nahe sein.
 
Traurig war es immer, ob sie nun einsam starben, die alten Menschen, die sich in jüngeren Jahren verlassen hatten, oder ob sie Hand in Hand durch den Park spazierten und sich dann doch hilflos loslassen mußten.
Der einzige Trost blieb der lange Schlaf, der ihnen bevorstand. Und daß ihre Gesichter dann den Ausdruck von stiller Freude und Frieden hatten, Winterblumen, die sich auf schneebedeckte Gräber senkten.
Nachdem wir daheim angekommen waren – den Maler hatten wir bereits vor seiner Wohnung abgesetzt – ging meine Frau daran, Pilze für das Abendessen zu säubern. Ich machte meine vorgeschriebene, tägliche Gymnastik, und der Maler stand vor seiner Staffelei und arbeitete an einem Gemälde, das ein Unternehmerpaar in Barockkleidung zeigte.
Niemand von uns dreien denkt, daß er ein Tänzer ist.
 
 
© 2014 Karl Otto Mühl