So haben wir gelebt

Elke Schleich – „Wir haben alles hingekriegt“

von Frank Becker

So haben wir gelebt
 
Elke Schleich erzählt in ihrem neuen Buch aus zwei durch Familienbande eng verflochtenen Leben. Dem des jungen Mädchens Gerti, die sich beim Kriegsende 1945 als entlassene Wehrmachtshelferin von Niedersachsen aus mit der Freundin Inge zurück in die Schalker Heimat durchschlagen muß und ihrer Entwicklung bis in die Sechziger Jahre. Sie wird sich verlieben, aber einen anderen heiraten, wird zur tapferen Ehefrau und handfesten jungen Mutter dreier Kinder im beginnenden bundesdeutschen Wirtschaftswunder. Zeitüberlappend wird die Geschichte ihrer in den Fünfzigern geborenen Tochter Leni bis zu deren ausklingender Jugend Ende der Siebziger Jahre erzählt. Wer Elke Schleichs früheren Roman in 18 Geschichten „Gummitwist in Schalke-Nord“ kennt, wird Leni hier mit etwas verändertem Blickwinkel, aber mit gleicher Empathie wiederfinden.
Wie schon in ihrem Roman von 2012 ist Leni natürlich Elke Schleichs alter ego, ein Mittelpunkt ihres autobiographischen Romans „Wir haben alles hingekriegt“ - diesmal aber wie gesagt nicht allein, denn der erste Teil des fesselnd erzählten Buches gehört, wie oben erwähnt, Lenis starker Mutter Gerti.   
 
Mit dabei ist natürlich auch der Rest ihrer Familie, mit Vater Heinz, Bruder Berni und Schwester Uschi, im ungeschönten und nicht künstlich dramatisierten Alltag (eine Crux vieler ähnlicher Bücher). Wir erleben den Gang zum Kaufmann, den Lohntütenball am Freitagabend, das knappe Haushaltsgeld und dem Umgang Lenis mit dem in Groschen bemessenen Taschengeld. Wir gehen mit ihr und ihren Freunden zum Baden an den Rhein-Herne-Kanal, in die Disco oder auf den Pferdehof. Wir werden als Leser Zeugen auch all der eigenen Erlebnisse jeder geschilderten Altersstufe, seien es dicke Freundschaften oder bitterer Kummer, brennende Wünsche und heimliche Liebe oder glühende Verliebtheiten samt der berauschenden ersten Küsse. Elke Schleich hat die Beschreibung der beiden Schicksale geschickt mit dem roten Faden von Tagebucheinträgen verknüpft. Gelungen sind Elke Schleich auch Randfiguren (nichtsdestoweniger wichtig) wie Gertis Reisebegleiter Daniel, das Ehepaar Guttmann oder Lenis Freunde Marlis und Werner - und gelungen ist ihr auch hier, das Zeitkolorit des Ruhrgebiets der Wiederaufbaujahre der zerstörten Städten bis zum ersten bescheidenen Wohlstand einzufangen.
 
Was für „Gummitwist…“ galt, gilt auch hier: daß wir in den ungekünstelten und dadurch besonders sympathischen Romanfiguren Gerti und Leni Mutter und Tochter Schleich wiedererkennen, daß wir den langsamen, fast unmerklichen Übergang von der Kindheit zur Jugend miterleben dürfen, daß Elke Schleich in geschliffener, doch nie überzogener Sprache, auf den Punkt genau und fein formuliert. Da wird nicht nach Sünden und Sensationen gefischt, da wird nichts in Alltag und Gesellschaft hineingeheimnist, werden keine Schlüpfrigkeiten probiert oder Abenteuer konstruiert. Es ist das Leben, nur das Leben. Das ist für einen jungen Menschen (hier für zwei Generationen) nicht nur im Ruhrgebiet Abenteuer genug.
Wieder ein Lesegenuß - jetzt in der Reihe Ruhrgebiet de luxe bei Henselowsky Boschmann - aus der Feder Elke Schleichs von besonderer Güte und von mir als Zeitzeugen nicht nur sehr empfohlen, sondern erneut mit unserem Prädikat ausgezeichnet: dem Musenkuß.
 

Elke Schleich – „Wir haben alles hingekriegt“
Die Geschichte von Gerti und Leni  -  Reihe „Ruhrgebiet de luxe“
© 2016 Henselowsky Boschmann, 175 Seiten, gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen
ISBN 978-3-942094-60-3
9,90 €
 
Weitere Informationen:  www.vonneruhr.de