Mein Bauch kann nicht lesen

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Mein Bauch kann nicht lesen
 
Eigentlich wollte ich nur sechs Brötchen kaufen. Einen Sonntagmorgen ohne Marmeladenbrötchen kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich lockt eine Bäckerei auch mit anderen Genüssen. In der Kühltheke stand eine kleine Erdbeertorte. Ich war gerührt von den kleinen Sahnetupfern, auf die der Bäcker geschickt halbierte Erdbeerstückchen gesetzt hatte. Auf der Sahneoberfläche des Biskuitbodens hatte man mit Erdbeerpüree den Wunsch gespritzt: „Liebes Julchen Gute Besserung von Deiner Uroma.“ Frau Hermisch hatte gerade die sechs Brötchen in einer Tüte verstaut und fragte wie immer: „Darf es sonst noch was sein?“ Die Sonne schien, und die Welt am Sonntag lockte mit einer Titelgeschichte über Teenies, die eine unbekannte Seele haben. Ich wollte einen Witz machen und zeigte auf das Törtchen „Diese Torte hätte ich gerne noch.“ Frau Hermisch lachte. „Die können sie gerne haben, sie ist gestern nämlich nicht abgeholt worden.“ Sie hielt kurz inne und sprach dann weiter: „Schade ist nur, das schon was drauf steht, oder?“ Ich überlegte. Das war das kleinste Problem. Mein Bauch kann nicht lesen. Ich wurde einen anderen Gedanken nicht los: Hoffentlich war da nichts passiert. Hoffentlich ging es Julchen und der Uroma gut.
 
 
 
© Erwin Grosche