Die Schrecken des Wassers

von Karl Otto Mühl

Die Schrecken des Wassers
 
Das kam alles sehr schnell hintereinander. Nach der Beerdigung meines alten Kollegen Siegfried, zu der ich von Bielefeld hierher gereist war, wollte ich mir hier in Hamburg noch die St. Petrikirche ansehen, was mir empfohlen worden war. Ich bin einer, der gerne Kirchen und Schlösser besichtigt. Paul und Dieter, meine beiden Söhne, sind deswegen nie gerne mit mir gereist. Vor jeder Urlaubsreise, jedem Ausflug, jedem Städtebesuch wollten sie wissen, ob sie mit mir Kirchen besichtigen müßten.

Siegfried hatte als Korrektor in der Springer-Druckerei gearbeitet. Er war nach Hamburg gezogen. Ich, im gleichen Beruf, war in Gütersloh geblieben. Das war alles vorbei, Siegfried war überraschend gestorben.
Mein Gepäck brachte ich in einem Schließfach am Bahnhof unter. Ich hatte noch Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges.

In der St. Petri Kirche war ich zunächst die Treppen zur Plattform hinaufgestiegen, in der früher die Feuerwächter saßen. Während ich die Plattform betrat, begannen laut hallend die Glocken zu läuten. Ich stieg weiter die enger werdende Treppe hinauf, hoch, bis in die Spitze, setzte mich auf den einzigen Stuhl dort. Ich konnte auf Alster und Elbe blicken und gleichzeitig auf den Rathausmarkt.
Während ich wieder hinabstieg, dachte wie oft schon an ganz andere Dinge, Dinge, die ich normalerweise niemand erzähle, auch nicht Marieluise, meiner Frau. Ich dachte zum Beispiel, wie schwierig es doch sein würde, mich in einer so riesigen Stadt unter riesigen Menschenmassen aufzuspüren, wenn ich selbst nichts dazu täte oder sogar bewußtlos wäre. Oder wie angenehm es im Augenblick war, gewissermaßen für die Welt zu verschwinden, mit einer vagen Hoffnung im Hintergrund; dann würde ich vielleicht so weit kommen, daß ich keinen Schmerz, keine Angst und keine Sorgen mehr spüren würde, möglichst auch keinerlei Gier. Vielleicht steckten Ahnungen in diesen Grübeleien, denke ich heute.
Das war an einem Dienstag. Während des Hinabsteigens dachte ich noch, daß nun eigentlich der lässigere Teil der Reise begonnen hatte, und ich meinte nicht, daß mir hier in Hamburg noch irgend etwas Überraschendes begegnen würde.

Aber zwei Sekunden später war es schon geschehen. Ich erinnere mich, daß ich zu einer älteren Frau hinüber blickte, die gerade über die Straße ging. Sie tat es, obwohl ein Auto herannahte und schon sichtbar geworden war, bevor sie mit dem Überqueren begann. Sie blickte starr vor sich hin und sagte wahrscheinlich damit zu dem Fahrer: Wenn ich dich nicht bemerke, habe ich auch nichts Böses getan. Und außerdem tue ich dir nicht den Gefallen und nehme deinen vorwurfsvollen Blick auf.
Ich merkte in diesem Augenblick, daß ich ausrutschte, direkt mit dem Fuß auf der Stufenkante, drehte mich haltsuchend nach hinten, wurde von einer ungewohnten Empfindung durchzuckt, knickte ein, fiel auf die Treppenstufen.
„Ich habe mir was gebrochen“, sagte ich zu einem herbeieilenden Passanten.

Wie eine Herde, ein großes Rudel, lagen wir, ein Dutzend Patienten, auf unseren Liegen vor dem Operationsraum des St. Georg Krankenhauses. Nie hätte ich vermutet, daß ich einmal in Hamburg vor einem OP liegen würde. Zwischen den Liegen huschten grüngekleidete Gestalten mit grünen Kopfhauben herum, Schwestern und Pfleger. Es dauerte lange, bis mich eine Schwester nach meinem Namen fragte. Am Fußende meiner Liege lagen mein Mantel und mein Hut, der mit den Utensilien aus meinen Taschen gefüllt war.
Niemand fragte mich, wie es mir ginge, ob ich Angst hätte oder gar Schmerzen.

Danach muß es sehr schnell gegangen sein. Ich hatte wohl eine Beruhigungsspritze bekommen und schlief dann ein. Vorher hatte ich wohl wieder einen meiner vielen Untergrundgedanken – wie es denn wohl wäre, wenn ich nicht mit einem gebrochenen Bein, sondern mit Schlimmerem hier läge, und ob ich wohl die Angst besiegen könnte, die letzte Angst, die im Stammhirn lauern soll. Abgesehen davon, war dies hier ohnehin ein gefährlicher Ort. Irgendetwas konnte einem hier immer zustoßen oder sich herausstellen.

Es war ein Drehbruch, entstanden beim Umdrehen auf der Treppe, wobei die Sohle so fest auf dem Untergrund haftete, daß dem Schienbein und dem Wadenbein nichts anderes übrig blieb, als splitternd zu zerbrechen. Ich lag in einem Zweibettzimmer, aber zur Zeit war das zweite Bett unbelegt. Der Professor blieb bei der Visite kurz an meinem Bett stehen und sagte Beruhigendes, er sah aus, als käme er gerade aus St. Moritz, dunkelgebräunt und Society-erfahren. Der Stationsarzt war dagegen zugänglich und erzählte gern.
Er sagte nach der Visite: “Jetzt wird es bald besser mit Ihnen. Erst werden Sie hier klein gemacht, und dann peu á peu wieder aufgebaut.“

Ich dämmerte noch in den Abend hinein, als der erste Besucher eintraf. Es war ein junger, blonder Schauspieler, der Neffe von Marieluise. Ich kannte ihn von gelegentlichen Verwandtentreffen, und einmal hatte ich ihn im Fernsehen gesehen. Und nun war er schon da, um mir Trost zu spenden und Marieluise telefonisch zu berichten.  Ein lieber junger Kerl. Jörg hieß er.
Er hatte mir eine geologische Zeitschrift mitgebracht, eine Sondernummer über den Teutoburger Wald. „Das lenkt ab“, sagte er, „man kommt ja leicht ins Grübeln, wenn man so liegt."

Ich finde ja, daß diese jungen Menschen andauernd abgelenkt werden wollen. Das ist nicht gut. Ich sagte natürlich nichts dergleichen, sondern erwähnte im Gegenteil, wie sehr mich Erdgeschichtliches und Geologisches interessierten, so habe der Anblick der Gewässer hier viele Gedankenverbindungen in mir wachgerufen, manche vielleicht geeignet, um in einer Ansprache oder Andacht verwendet zu werden. Stundenlang könne ich hier in Hamburg an vielen Stellen auf die Wasserflächen blicken, und ich müsse dabei unweigerlich an die Ewigkeit und an die Unendlichkeit denken.
Ich hatte Marieluise gebeten, auf keinen Fall zu kommen. Sie wurde zuhause gebraucht, und ich hatte es doch wahnsinnig gemütlich hier. Mir gehe es gut, obwohl es ein Drehbruch sei und jetzt ein  Stück Eisen im Fuß stecke.

Ich denke, die Menschheit ist ein Netzwerk, verbunden mit subtilen elektrischen und spirituellen Leitungen. Marieluise schweigt immer, wenn ich diese Ansicht ausspreche. Ich weiß nicht, ob sie anders denkt. Nachrichten eilen übers Land, wenn jemanden etwas trifft. Ich denke, daß es in diesen Leitungen auch pulsiert, wenn die konkrete Nachricht ausbleibt. Mütter fahren nachts aus ihren Kissen hoch, sie hatten Gesichte. Der Sohn ist gefallen. Sie sagen zu zum Ehemann neben ihnen: „Ich habe von unserem Jungen geträumt.“ Vielleicht denken sie: Ob er meine Stimme gehört hat, der Junge?

Bevor Jörg ging, fragte er noch, ob jemand aus Bielefeld kommen würde und mich besuchen. Vielleicht meine Frau...?
Ich hätte ihr ganz deutlich gesagt, daß dies überflüssig sei, antwortete ich, und Jörg nickte ergeben dazu.

Es war schon dunkel, als noch ein zweiter Besucher auftauchte. Es war Alfred, Kriegskamerad von der Bretagne-Front, jetzt Kraftfahrzeugmeister hier in Hamburg
Ich glaube, ich bin etwas schwerfällig und bedächtig, und nicht jeder mag das, aber Alfred war einer der wenigen, die mich gut ertragen konnten Er brachte mir warme Freundschaft entgegen. Und wir waren zufällig jeder im Presbyterium seiner Gemeinde. Es gab Zeiten, wo wir mehrmals in der Woche miteinander telefonierten. Meistens ging es um die Auswahl von Texten für kurze Ansprachen, über die wir uns berieten. Manchmal stellten wir einander auch auf die Probe und ließen einer den anderen raten, aus welchem Psalm diese oder jene Bibelstelle stammen mochte.

Aber unsere Verbindung war vor etwa zehn Jahren eingeschlafen. Wir schrieben einander nicht mehr, telefonierten auch nicht mehr. Wenn man sich jahrzehntelang nicht sieht, hat man eines Tages nichts mehr zu sagen. Darum wäre ich jetzt nicht auf den Gedanken gekommen, ihn anzurufen oder herzubitten.
Er saß neben meinem Bett, ruhig und gleichmäßig sprechend, und vor allem langsam und mit einer besonderen Gründlichkeit. So kannte ich ihn. Sein Gesicht blieb fast immer unbewegt und ernst. So kannte ich ihn seit langem.

Wir tauschten Erinnerungen an den Afrika-Feldzug aus, von der Gefangennahme. Meine Gruppe, ein halbes Dutzend Soldaten, hatte die Nacht in einem lybischen Wüsten-Wadi verbracht. Wir alle schliefen. Die Schlacht war fern von uns oder zu Ende. Zurufe britischer Soldaten hatten uns aufgescheucht. Sie blickten aus den Türmen ihrer Panzer, die uns umstellt hatten, auf uns herunter, roboterhafte Helmgesichter.
„Come on!“
Wir marschierten, nunmehr Kriegsgefangene, auf eine Reihe von Telegrafenmasten zu, wo die Engländer die aufgelesenen Reste von Rommels Armee zusammentrieben.
Und  da saß Alfred! Mein alter Kamerad, der jetzt, nach 40 Jahren, hier neben mir an meinem Krankenbett saß.

„Das war ein schönes Gefühl, dich wiederzusehen“, sagte ich. „Allein unter Vielen, da war ich nun, in Afrika, gefangen, ein Junge noch, und nun hatte ich plötzlich wieder eine Familie - dich! Du hast alles mit mir geteilt, Dextro-Energen, gabst mir deine Feldflasche, und du hattest sogar eine Wolldecke. Die Nächte waren ja kalt.“
„Ja“, es ist schön, wenn man Familie hat“, sagte er leise.

Ich blickte ihn aufmerksam an. Es klang so unverbunden und unvermittelt, was er da sagte.

„Ich hatte danmals in der Wüste den ganzen Tag nicht getrunken“, sagte ich  und sah uns jetzt wieder Rücken an Rücken an einem Telegrafenmast unter Hunderten von deutschen Gefangenen sitzen. Da hatte Alfred mir seine Feldflasche gereicht, die das Kostbarste enthielt, was wir uns im Augenblick vorstellen konnten, Wasser! Ich trank, versuchte mich zu zügeln, schielte zu Alfred hinüber, ob er vielleicht ungeduldig würde. Aber das hätte nicht zu ihm gepasst, er blickte gelangweilt in den wolkenlosen Himmel. „Du hast nicht mal kontrolliert, ob ich viel oder wenig trank“, sagte ich, als ich die Flasche abgesetzt hatte.
„Das wäre aber auch das Letzte“, antwortete er. So ist Alfred. Aber ging nicht weiter darauf ein, sondern starrte düster vor sich hin, während draußen der Himmel langsam dunkel wurde.
„Aber danach brauchten wir nicht mehr zu kontrollieren!“, sagte ich. Da waren wir zu Zehntausenden in einem Gefangenenlager in Alexandria, und aus Dutzenden von Wasserhähnen sprudelte das wunderbar klare Wasser. An jedem Wasserhahn hing einer von uns gefangenen deutschen Soldaten, und ich trank und trank, ich sog das Wasser des Lebens in mich hinein, und neben mir schlürfte Alfred ebenso.

Ich erinnerte ihn daran, daß dies das erste Mal seit unserer Ankunft in Afrika war, daß wir hemmungslos trinken konnten. Als wir noch mit unseren deutschen Truppen in Tobruk lagen, schickten wir LKWs mit Kanistern riesige Strecken nach Westen, nach Derna, und aus den zurückgebrachten Kanistern bekam jeder seine Ration, vielleicht zwei Kochgeschirre voll. Erst wurde davon getrunken, dann damit rasiert, und mit dem gebrauchten Wasser konnten wir uns waschen.
Er möge sich vorstellen, sagte ich, ein Dutzend Soldaten fuhren mit Lastwagen Tausende Kilometer weit, um Wasser zu holen. Was für ein Aufwand! „Findest du nicht, Alfred? Hast du verstanden?“

„Aufwand ist egal,“ sagte Alfred. „Am Schluß ist es egal, wofür man Aufwand treibt.“
„Ich war aber auch froh, daß ich nicht allein war“, sagte ich.
„Ja, ja.“ Alfred war wirklich seltsam, fand ich.
„Und daß wir genug Wasser hatten! Endlich einmal Überfluß. Das ist doch das Wichtigste. Man lebt davon.“
„Und stirbt davon“, sagte er.

Jetzt wollte ich aber doch erfahren, was in Alfred vorging. Ob etwas passiert sei? Er solle es mir endlich sagen. Schließlich hätte ich niemals einen Freund gehabt, der mir näher gewesen sei als Alfred.
„Damals dachten wir, jetzt haben es jetzt hinter uns“. sagte er leise. „Jetzt kann alles nur noch gut werden. Keiner von uns wird sterben, wir kehren alle zurück. Dachten wir.“
Ich sagte, so sei es ja nun auch gekommen.

„Nein, es ist anders gekommen.“

Ach, sagte ich übermütig, ein Beinbruch sei ja nun kein Beinbruch. Da mache ich mir keine Sorgen. Aber, wie gesagt, es ging ja auch wirklich gut damals. Erst waren wir ja etwas wackelig, weil die Engländer drei Tage lang nichts zu essen für uns hatten, aber in Alexandria bekamen wir jeder eine Rolle Keks und konnten in Zelten schlafen, wir hatten Wolldecken – ja, aber das Allerwichtigste, worauf  wir uns alle stürzten, das war dieser lange Trog mit mindest 30 sprudelnden Wasserhähnen, die am Anfang gar nicht reichen wollten für die Tausende von durstigen Gefangenen, daraus sprudelte sonnenhelles Trinkwasser.
„Das war ein seliger Augenblick“ sagte ich zu Alfred, der stumm vor sich hinstarrte. „ich dachte, ich höre nicht mehr auf zu trinken. Ich dachte, wenn man Wasser hat, dann ist man glücklich. Es ist ein Gottesgeschenk.“
„So, so“, sagte Alfred.
„Was ist? Was ist denn, Alfred? Du sagst das so komisch.“
„Du sollst aufhören mit deinem verdammten Wasser“, sagte er scharf, mit ausdrucklosen Gesicht. „Ich gehe jetzt.“
„Nein, nein“ sagte ich hastig. „.Nicht so. Was ist denn? Du kannst doch  so nicht gehen. Sag mir endlich, was los ist!“
Er blickte mich voll an. „Sie war dabei. Du wirst es gelesen haben.“
Jetzt erzählte er es mir doch.

Seine Tochter Tina war dabei gewesen, als es geschah. Nach einem Betriebsausflug hatten sie mit einer Ausflugs-Barkasse eine Hafen-Rundfahrt gemacht. Der alte Schiffsführer steuerte in Richtung auf eine  Hafen-Schute, die von einem Schlepper gezogen wurde. Er geriet zwischen den Schleppzug. Die Schute überfuhr frontal die Barkasse und drückte sie unter Wasser.
Die Fahrgäste waren vielleicht durch den Schock oder die Kälte rasch ohne Besinnung. Sie waren eingeschlossen in einem eisernen Sarg. Sie hatten an der Türe gezerrt, das Wasser war gestiegen und gestiegen, sie schrieen, sie hämmerten gegen die Wände.  Alle Passagiere unter dem Schutendach ertranken. Und Alfreds Tochter war dabei.
Niemand hatte so einen Unfall erwartet. Eine gemächliche Barkasse inmitten Hunderten von Schiffen, aber niemand konnte rechtzeitig helfen
Was sie wohl gedacht haben könnten? Ich stellte diese törichte Frage.
„Vor Angst fühlten sie den Tod nicht kommen“, antwortete Alfred. „So ist das mit deinem Wasser. Es kann deinen liebsten Menschen umbringen.“

Er stand eine längere Zeit stumm vor mir. „Davon wird man nie mehr gesund. Als Vater. Nie mehr. Aber ich denke nicht nur das. Sie ist ja in Fruchtwasser geschwommen, der kleine Engel, nicht wahr. Und vorher, nicht wahr, da waren wir doch schon immer zusammen, ich meine, immer schon bei Gott. Ich habe mich um sie gekrümmt wie eine Mutter, wie das Embryo in der Mutter sich in sich selber krümmt. Und das Wasser hat sie umgebracht. Es hat ihre Schreie erstickt. Sie hat an mich gedacht, als sie vor Angst schrie, bestimmt. Ich sollte ihr helfen. Sie war fleißig, sie war bescheiden, sie war – sie war alles. Warum muß so ein Mensch umkommen?“

„Bestimmt ist sie dir immer nah“, sagte ich.  Schließlich war es ja mein Amt als Presbyter, hier etwas Vernünftiges zu sagen. „Sie ist in Sicherheit. Du mußt sie nicht suchen. Sie wartet ja auf dich.“
„Ist das wahr?“ fragte er. „Vielleicht glaubt man das, weil man es braucht.“
„Ich glaube das“, sagte ich. „Die Toten, an die ich denke, reden in meiner Vorstellung anders als vorher, vor ihrem Tode. Das ist mir fast ein Beweis, weißt du. Und es ist so, wie du sagst, wir alle waren immer schon beisammen, immer, und am engsten waren es die Eltern und die Kinder, die Guten und die scheinbar Bösartigen, sie waren zusammen.“
„Gut, daß du das gesagt hast“, sagte Alfred. „Tina war übrigens nicht bösartig. Das ist ein verdammter  Unsinn von dir. Sie war mein Engel. Ja – aber wenn es nun nicht so ist? Was macht man dann? -  Hast du vielleicht einen Schluck zu trinken da?“
„Da steht eine Flasche Mineral---“

Ich stockte. Beinahe hatte ich „Wasser“ gesagt. Ich vermied das Wort und sagte schnell: „Ich habe noch nicht daraus getrunken“.
Er nahm einen tiefen Schluck und sagte: „Aber vorläufig reden wir nicht mehr vom ---– “
Er blickte mich - verdutzt über seinen Versprecher - an.

Alfred war gegangen. Ich saß aufgerichtet in meinem Bett  und begriff langsam, daß es wieder einmal meine gelegentliche steife, gedankenlose Art gewesen war, die mich nicht bemerken ließ, was in dem anderen vorging. Gottseidank kommt es doch immer seltener vor, dachte ich. Aber ich kann es wohl nicht völlig ändern.

Langsam und leise öffnete sich die Tür des Krankenzimmers. Jörg war zurückgekommen. „Ich habe mich vorhin nicht getraut, es dir zusagen. Ich sollte ein Wort für deine Frau einlegen. Sie möchte dich gern besuchen.“
„Extra aus Bielefeld?  Diese Kosten.“
„Trotzdem. Sie möchte es gerne.“
„Und warum sagt sie es  mir nicht selber?“
„Du hättest das so strikt abgelehnt. So scharf.“

Wieder kamen mir Zweifel, ob ich mich nicht manchmal falsch verhielte. Ich stehe den Menschen doch positiv gegenüber, denke ich von mir. Seltsam.
 
 
© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007