Olympic Airways - Touristenklasse

Ein Protokoll

von Viola Schwanicke

Foto © Frank Becker
Olympic Airways -
Touristenklasse
 

Den grausigen November hatte ich hinter mich gebracht, mit der Überzeugung, daß ich eines Tages im November sterbe - wenn überhaupt.
Wir ließen sie zurück, die verlogene Weihnachtszeit; wie die Zugvögel entflohen wir Deutschland, wir flohen nach Süden, flogen nach Griechenland - und hatten sie da gleich wieder vor uns, die verlogene Weihnachtszeit. Mit scheußlichen Weihnachtsbäumen, dürren Gerippen mit von innen beleuchteten Kunststoffkugeln, die aussehen wie Plastikzitronen aus dem Supermarkt, obligatorisch mit zwei Lichterketten, von denen eine immer AN und AUS geht, AN und AUS ... davon wird man verrückt.
     Unser kleiner weißer Leihwagen sah aus wie ein holländisches Polizeiauto und wurde von uns beiden auf Anhieb geliebt; sicher brachte es uns von Thessaloniki nach Pilio, und noch bevor wir dort ankamen, war die Sonne untergegangen.
Afyssos war zur Geisterstadt geworden, jetzt, mitten im Winter: alle Geschäfte, alle Bars geschlossen, keine lebendige Seele auf der Straße, absolute Grabesstille ringsum. Wie ein Leuchtturm an einsamer Bucht stand nur das Maistrali mit erleuchteten Fenstern an einer Klippe; unser Obdach, von Gasthaus gar nicht zu sprechen, erscheint mir doch die positive Konnotation des Wortes im Nachhinein durch nichts mehr gerechtfertigt; ja, ich würde sogar die Frage 'Wie heißt der Ort, an dem Sie nur unfreiwillig Aufenthalt nehmen?' nicht mehr ohne zu zögern mit 'JVA Simonshöfchen' beantworten. Schon eher mit Ξενοδοχειο Μαιστραλι|.
Was für ein Glück wir haben, dachten wir, als die Wirtin uns zur Halbpension à la carte anbot.
     Was für ein Glück wir gehabt hätten, eine kleine morphologische Nuance, und schon stimmt der Bezug wieder. Keinesfalls nämlich anhand der Speisekarte stellte der Wirt uns zur Auswahl: Brisola.  Brisola vom Rind. Oder vom Schwein. Brisola und basta. Wir bekamen ein Rinderkotelett, das an Zähigkeit gut und gerne an meine selbstgebratenen Steaks heranreichte, dazu Pommes frites in der superöligen Ausführung. Und zum Schluß, trotz vereinbarter Halbpension, eine Rechnung, bei der uns die Spucke wegblieb, die wir aber bezahlten, protestlos und fügsam. Dann gingen wir schlafen.
     Den ganzen nächsten Tag verbrachten wir in den Bergen; mit unserem Leihwagen fuhren wir die Halbinsel ab, von Tsangarada nach Milina, von Agios Ioannis nach Hania und wieder hinunter nach Volos. Je fünfhundert Meter Höhenunterschied änderte sich die Landschaft: Toscana, Tundra, Taiga; Sonne, Nebel, Schnee; alles bot uns Pilio auf 1400 Metern zwischen Gipfelkreuz und Meer. Wir fuhren Stunde um Stunde ohne einen menschlichen Kontakt. Steil fiel die schmale, kurvige Straße zur Rechten in die Tiefe, nur hie und da erweckten kümmerliche Leitplanken einen schwächlichen Eindruck von Sicherheit. Alle hundert Meter ein verrosteter Kasten mit Madonna, stummer Zeuge dafür, daß hier jemand den Sturz in die Tiefe überlebt hat. - Nicht mehr viel Platz für die Kreuze derjenigen, die so viel Glück nicht gehabt haben.
     Halb verhungert kehrten wir ins Hotel zurück und handelten noch mal die Halbpensionskonditionen aus: à la carte, wie gesagt. Hier weiß anscheinend die eine Hand nicht, was die andere tut.
     Trotzdem lachten wir, wir haben ja Humor. Wir lachten über den Kellner beim Abendessen. Wir lachten, weil er ständig das Besteck verkehrt herum neben den Teller legte. Wir verkniffen uns nur mit Mühe das Lachen, weil er beständig an einer bestimmten Stelle im engen Durchgang zwischen den Tischen stolperte. Peinlich genau richtete er Wein- und Wasserglas aus, als wären wir im Ritz, nur um uns Minuten später die Weinflasche auf den Tisch zu knallen, ohne auch nur die Hand aus der Hosentasche zu nehmen.
     Er näherte sich mal wieder mit einem Tablett in der Hand, balancierte es achtsam vor sich her und - hoppla! - stolperte schon wieder.
Ich versuchte, mich ernst zu halten.
     "Bald ist Silvester", flüsterte Daniela, "und der spielt jetzt schon dinner for one!"
Da konnten wir nicht mehr und prusteten los, was er uns derart übelnahm, dass er von Stund an kein Englisch mehr verstand.
Lange, lange, lange ließ er sich nicht mehr sehen. Dann endlich kam er, er trug wohl der Erkenntnis Rechnung, dass er nicht Feierabend machen konnte, ehe wir gegessen hatten. 
     Ich forderte die Speisekarte – er brachte sie, und auf seiner Stirn stand in lateinischen Großbuchstaben: DA HABT IHR SIE, IHR ARMEN IRREN: Die Karte war vollständig in Griechisch geschrieben. 
     Oh, was für schöne Gerichte und Vorspeisen und Salate wir uns ausgesucht hatten als Entschädigung für die Brisola vom Vortag. Mit düsterem Blick näherte sich der Kellner, sorgsam setzte er seine Schritte, erreichte unseren Tisch, ohne zu fallen – und nahm uns die Speisekarte wieder ab. Schon öffnete ich den Mund, um die Bestellung herzusagen, da runzelte er die Stirn und entfernte sich.
Wieder saßen wir ohne etwas zu Essen da, bis endlich ein Teller mit gemischten Vorspeisen auf unserem Tisch landete wie ein Ufo aus den unerforschlichen Tiefen des Universums.
     Hungrig gaben wir uns damit zufrieden, die mangelnde Erfahrung in Halbpensionsdingen machte uns stumm und ergeben in unser Schicksal. Wir aßen restlos alles auf, denn es war ja keineswegs sicher, dass es danach noch etwas geben würde, doch der Kellner brachte nach einem wiederum längeren Zeitraum jeder von uns einen Teller mit – irgendwas. Soviel wir auch rätselten, wir kamen nicht dahinter. Schweinefleisch, Geflügel, Kaninchen? Selbst Katze und Meerschweinchen hätte ich nicht ausschließen können, und alles schwamm in einer trüben, schleimigen Soße von einer Farbe und Beschaffenheit wie... ich mochte gar nicht darüber nachdenken. Dazu die unvermeidlichen Pommes frites. Daniela war auch schon ganz blaß, und alles was uns noch interessierte, war die Frage, ob wir auch das wieder würden bezahlen müssen.
     Im Vergleich zum Frühstückskellner hatte der vom Abendessen immerhin einen gewissen Unterhaltungswert. Der andere war einfach nur mutwillig. Mutwillig ließ er jeden Morgen  ein anderes Stück von unserem Frühstück weg. Hatten wir uns noch am ersten Tag über das reichhaltige Frühstück gefreut, mußten wir am nächsten Morgen schon auf die zweite Tasse Kaffee verzichten. Am folgenden Tag war das Brot steinhart, wir hatten ein Ei, aber kein Salz, wir bekamen keinen Orangensaft mehr und eine gekürzte Kuchenration. Meiner ersten vorsichtigen Hochrechnung zufolge würden wir am letzten Morgen unser Frühstück schon selbst mitbringen müssen.
     War denn nicht Silvester der WAHRE Grund für die Reise gewesen? Silvester im Maistrali, wo sich alles traf, was Beine hatte; den ganzen Sommer über hatten wir uns darauf gefreut.
     Gegen halb elf kamen wir herunter in den Speisesaal, der aus einem innengelegenen Bereich mit Kamin bestand und einem Wintergarten, von dem aus man einen unvergleichlichen Blick über die Bucht hatte, wo sich im Sommer die Lichter der Bars und der Strandtavernen spiegeln; jetzt im Winter spiegelte sich gar nichts, und doch saßen wir gewohnheitsmäßig draußen, steuerten also draußen auf einen kleinen Tisch zu und wollten uns gerade setzen, als wir von einer pummeligen Kellnerin zurückgepfiffen wurden.
"Hallo!", rief sie laut. "Da können Sie sich nicht hinsetzen!"
Ihr Englisch war einwandfrei.
Zum ersten Mal regte sich Widerstand in mir. Keine Nummerierung, nichts ließ auf zugeteilte Plätze schließen. Wieso also?, fragte ich mich.
"Warum?" fragte ich auch sie.
     "Na, weil das eben nicht Ihr Tisch ist!", antwortete sie patzig, als ob das etwa eine Begründung gewesen wäre, und führte uns zu einem kleinen Tisch. Trotz aller Wut über diese Behandlung ließen wir uns kommentarlos umquartieren. Nach eingehender Betrachtung des Tisches und seiner Position im Raum wurde uns klar, warum ausgerechnet wir hier sitzen mußten: Er wackelte ganz furchtbar, der Fensterrahmen war an dieser Stelle verzogen, und es entstand ein fingerdicker Spalt, durch den die kühle Dezemberluft hereinblies. Der Tisch war im übrigen so klein, daß die Kellnerin nicht uns beiden gleichzeitig das Essen servieren konnte und am Ende auf einen Nachbartisch ausweichen mußte. Währenddessen strömten immer mehr Griechen in den Speisesaal und wurden alle gleichermaßen freundlich gefragt, wo sie sitzen wollten.
     Irgendwann - es mußte so langsam Mitternacht sein - ohne ein bestimmtes Kommando oder Signal setzte die Musik aus, und alle Leute legten einander die Hände auf die Schultern und küßten sich die Wangen, verhalten und in höchstem Maße feierlich, überhaupt nicht fröhlich; und anstelle von Sektkorken und Feuerwerkskörpern knallten καλι-χρωνια-Rufe durch den Raum. Und bei dieser ganzen Küsserei und Beglückwünscherei küßte und beglückwünschte uns niemand. Die Griechen ignorierten unsere Anwesenheit und unser Bedürfnis, auch ein bißchen beglückwünscht zu werden; und wir ignorierten ihr neues Jahr und spielten also demonstrativ Karten und beglückwünschten uns gegenseitig auch nicht.
     Um Viertel vor eins erhoben wir uns von unserem winzigen Tischchen, und wie wir zu so unpassender Zeit den Saal verließen, wurden wir zum ersten Mal wahrgenommen: In dieser Gesellschaft wollten wir auf keinen Fall unser neues Jahr beginnen, dann doch lieber wir beide allein, und auf Ivan wollten wir anstoßen, genau um Mitternacht, das hatten wir ihm beim Abschied versprochen.
     So traten wir hinaus in die milde Silvesternacht, und die ersten fünfundvierzig Minuten des neuen griechischen Jahres waren schon vorüber, aber uns - so versicherten wir uns zum zigsten Mal an diesem Abend - uns ging das neue griechische Jahr doch nun wirklich nichts an. Wir blickten hinauf zu den Sternen und machten uns klar, daß dieselben Sterne über jedem Ort der Welt standen, an dem wir jetzt gern gewesen wären; und ich dachte dabei an die Sterne über Rom, während ich spürte, daß Danielas Sehnsucht ganz woanders hin ging. Langsam schlenderten wir um die Bucht. AN - AUS... AN - AUS... asynchron blinkten die scheußlichen Lichterketten in der Dunkelheit. Nur einige griechische Männer waren auf der Straße, die sich unterhielten. Einer lachte. Ihre Stimmen klangen hohl und überlaut in der absoluten Stille dieses verlassenen Ortes.
     Wir müssen ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, zwei vereinzelte Touristinnen in einem ansonsten völlig entvölkerten Küstenort, mit einer Flasche Asti in der Hand, in der ersten Stunde des neuen Jahres.
Trotzig schüttelten wir die Astiflasche und überdeckten unsere Beklommenheit mit nicht wirklich vorhandener Ausgelassenheit. Niemand, denke ich, kann die letzten Minuten des alten Jahres ohne Wehmut vorübergehen lassen, ohne die vergangenen Ereignisse zu bewerten und ohne seine Hoffnungen für das neue Jahr zu formulieren, das unaufhaltsam näherrückt. Und in diesen Minuten waren wir allein, Daniela für sich und ich für mich; und ich beschloß, im nächsten Jahr auf meinen eigenen Beinen zu stehen, meine Pläne für mich allein zu schmieden, meine Erfahrungen für mich allein zu machen, und - vor allem mit Blick auf alles, was ich in den letzten Tagen widerspruchslos hingenommen hatte - vor allem beschloß ich, Widerstand zu leisten. Ja, das vor allem.
     Ich sah Daniela an und begriff, daß es nur eine Illusion von großer Freundschaft war, die wir um uns herum aufgebaut hatten. Unsere Wege fingen an auseinanderzulaufen wie Bahnschienen an einer Weiche. Wir waren immer viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, unsere vielen Gemeinsamkeiten zu hätscheln und zu pflegen, wobei wir alles ausklammerten, was wir offensichtlich nicht gemeinsam hatten, weil wir beide wußten, daß unsere einzigartige Freundschaft einen Streit nicht würde überstehen können.
     "Noch fünf!", brüllte auf einmal Daniela, und die Männer auf der Straße sahen entgeistert zu uns herüber. Da Danielas Uhr nicht sehr genau ging, hatte sich der Beginn des neuen mitteleuropäischen Jahres in eine gewisse Grauzone verlagert, die Sekunde Null wurde darum willkürlich festgelegt.
"Noch vier!", jetzt brüllten wir beide; es schien unser legitimes Recht zu sein, so für uns unser eigenes neues Jahr zu begrüßen.
"Drei!" Ich schloß die Augen, dachte an Dario, und daß er in diesem Augenblick...
"Zwei!" ...mitten in Rom, ein Glas Sekt in der Hand - ach, unterm Mistelzweig möchte ich dich küssen...
"Eins!" ... und an Ivan, an unser Versprechen...
PENG! Der Korken knallte haarscharf an unserem Prost-Neujahr-Ruf vorbei; der Sekt spritzte, wir füllten unsere Becher.
"Auf Ivan", murmelte tatsächlich auch Daniela, und der Gedanke von der Gegenseite war ganz deutlich zu spüren.
Es wurde still.
     Daniela beschwor die Fata Morgana von unserer Stammkneipe herauf, und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich die dazugehörige Silvesterstimmung vorzustellen. Die Einsamkeit war plötzlich körperlich spürbar, wo niemand da war, der uns Prost-Neujahr hätte zurufen können; einsamer hätten wir auch am Nordpol nicht sein können.
     Um der Einsamkeit doch noch einen Augenblick zu entfliehen, nahmen wir die Astiflasche in die Mitte und fuhren nach Volos, mal auf der rechten Spur der Küstenstraße, mal auf der linken; von Koropi bis Agria die reinste Autoscooterfahrt, und bestimmt war jeder, der um die Zeit noch fuhr, mehr oder minder betrunken.
Wir gingen zu Fuß zum Hafen hinunter, wo eine Gruppe von Leuten damit beschäftigt war, eine riesige Puppe aus Lumpen aufzustellen; mittlerweile war es halb drei. Unheimlich, was da vor sich ging, welches heidnische Ritual da vollzogen wurde. Gespenstisch überragte uns dieses gruselige Ding, das - noch halb Skelett - einer übermannshohen Voodoo-Puppe glich; ein quasi-personifiziertes böses Vorzeichen fürs neue Jahr. Wir kehrten in unser Hotel zurück. Einsam beendeten wir die Silvesternacht und diesen ganzen zweifelhaften Trip nach Griechenland und waren zweiundvierzig Stunden später schon wieder auf dem Weg in die Kälte; Olympic Airways, Touristenklasse.
 
 
 
 
© 2007 Viola Schwanicke - Erstveröffentlichung in den Musenblättern