Sternenhimmel über Herne

„Wie is? – Muss.“ - Warum Ruhrgebietler manchmal stolpern, aber niemals hinfallen

von Frank Becker

Sternenhimmel über Herne

Wer das Ruhrgebiet kennt und dessen Menschen mag, aber auch wer es noch nicht kennt und ihm etwas näher kommen möchte, trifft mit diesem Buch nicht die schlechteste Wahl. Äußert sich doch in „Wie is? – Muss.“ eine hochkarätige Riege von Damen und Herren – 31 sind es summa summarum -, die dem Ruhrgebiet durch Herkunft oder gewachsene Liebe verbunden sind, zum Leben zwischen Ruhr, Emscher und Rhein-Herne-Kanal. Da kann man Leben und Fiktion mitunter kaum auseinanderhalten, so nah ist das alles am Echten. Und wissen Sie was? Das kann selbst eine Berliner Pflanze wie ich verstehen. Man muß einfach mal in Bottrop, Bochum, Gelsenkirchen, Duisburg oder Herne gewesen sei, um den Duft dieser Region in die Nase zu bekommen, die geradeaus denkenden und ehrlich handelnden Menschen kennenzulernen, ein Gefühl für Land und Leute zu bekommen. Die unterhaltsame Anthologie ist ein herrlicher Spaziergang durch Orte und Zeiten, mit Begegnungen, die man nicht vergißt. Erstaunlich und aufschlußreich und übrigens das Karriere-Bekenntnis des Mitherausgebers und Verlagsleiters Werner Boschmann. Vermutlich funktioniert sowat wirklich nur anne Ruhr. Eingeschoben sind ein paar der köstlichen Gedichte von Hubertus A. Janssen, dessen Buch „Der Lurch hält durch“ ich Ihnen schon hier angelegentlich empfehle und demnächst an dieser Stelle präsentieren werde.
Übrigens: als Deutschland 1954 Fußballweltmeister wurde, waren im Kader alleine fünf Spieler vonne Ruhr: Toni Turek (* in Duisburg), Heinz Kwiatkowski (* in Gelsenkirchen), Helmut Rahn (* in Essen), Berni Klodt (* in Gelsenkirchen) und Heinz Kubsch (* in Essen). 1958 waren es noch ein paar Kicker aus dem Pott mehr: wieder Heinz Kwiatkowski (* in Gelsenkirchen), Fritz Herkenrath (RW Essen), Günter Sawitzki (* in Herne), Erich Juskowiak (* in Oberhausen), Heinz Wewers (* in Gladbeck), Wolfgang Peters (Borussia Dortmund), Alfred Schmidt (* in Dortmund), Horst Szymaniak (* in Oer-Erkenschwick), Hans Cieslarczyk (* in Herne-Holthausen), Alfred Kelbassa (* in Buer), Berni Klodt (* in Gelsenkirchen) und der Boss Helmut Rahn (* in Essen).
 
Es ist, so der Verlag „eine Liebeserklärung an die Menschen des Ruhrgebiets. An ihren Charme, ihre Gelassenheit, ihre Pfiffigkeit. Sie lieben ihre Heimat mit mehr Herz, mit mehr Wärme, ehrlicher, kompromissloser als irgendwer sonst. Ja, sie lieben ihr Ruhrgebietsleben sogar dann, wenn es sie mal nicht so lieb hat, wenn es Stolperfallen für sie aufbaut, wenn etwas mal »dumm gelaufen« ist. (…) Denn denen ist so manches widerfahren, das einen Nicht-Ruhrgebietler zumindest in den Wahnsinn getrieben hätte.“
Herrlicher Schmökerstoff für nicht mal einen Zehner und von den Musenblättern empfohlen. Also ab in den nächsten Buchladen.
 
„Wie is? – Muss.“ - Warum Ruhrgebietler manchmal stolpern, aber niemals hinfallen
Herausgegeben von Hermann Beckfeld & Werner Boschmann
© 2016 Verlag Henselowsky Boschmann, 176 Seiten, gebunden, Lesebändchen, Fadenheftung - ISBN: 978-3-942094-66-5
9,90 Euro

Inhalt (damit Sie mal sehen, wer alles mitgewirkt hat):
(Seite) 6 • Hermann Beckfeld • Butter bei die Fische • Vorwort 8 • Sarah Meyer-Dietrich • Wo die Liebe hinfällt …. 13 • Timo Malers • Timo Malers im Gespräch mit Sarah Meyer-Dietrich 16 • Hubertus A. Janssen • Ruhrpotthelden. 18 • Klaus D. Krause • Oh, du fröhliche! 22 • Pia Lüddecke • Die Beschattung 28 • Uwe Becker • Sitzenbleiber 32 • L. Joseph Heid • Spott aus! Licht an! 37 • Stephanie Polberg • Erlebnisse in einer Buchhandlung 40 • Hermann Beckfeld • Grabowski & Co 50 • Achim Hodde • Freude schöner Ordnungsfunken 56 • Anja Kiel • Nur mal schnell 62 • Kerstin Barlach • Happyend auf Umwegen 66 • Julia Wilmsmann • Dumm geradelt, aber …. 72 • Mike Steinhausen • Nachtschicht 76 • Benno Hammerschmidt • Ruhrgebietler auf Reisen 82 • Daniel Twardowski • Der Fluch des Kubaners 96 • Elisabeth Wittkowski • life goes on 102 • Anke Klapsing-Reich • Rentier-Ringelreigen 107 • Martina Oldengott • Emschergenossenschaft 112 • Benjamin Bäder • Opa Dieter 118 • Simon Wagenschütz • Zweiter 124 • S. Herrmann • Von Freud’schen Fehlleistungen 126 • Herbert Knorr • Schitt häppens hoch drei 134 • Maria Kaspari • Grande Dame 138 • Inge Meyer-Dietrich • Geschliffen scharf 144 • Elke Schleich • Auf der Halde 150 • Sascha Pranschke • Weggeputzt 155 • Friedrich von der Höh • Vom Ruhrgebietsladen 159 • Werner Boschmann • Jüngsken für alles 164 • Werner Bergmann • Späte Genugtuung 168 • Friedhelm Wessel • Ausflug mit Tücken 174 • Werner Boschmann • Wie nich is? – Muß. Nachwort
Gedichte von Hubertus A. Janssen: 27 • Rhein-Herne-Kanal ••• Mit Schnecken davon 55 • Nachmittags am Baldeneysee 81 • Ruhrkohlenwanderung ••• 101 • Sternenhimmel 117 • Gouvernantenverfall ••• 143 • Halde Hilde 163 • Ruhrgebietskulturstrukturballade

Und als Kostprobe das Vorwort von Hermann Beckfeld:
Butter bei die Fische

„Wie is?“ – „Muß.“ Pause, kurzes Nachdenken, dann muß es kommen, und es kommt. „Und selbst?“
Ist es nicht beachtlich, wie einzigartig wenige Worte wir hier im Revier brauchen, um ein ordentliches Gespräch zu führen; ja, wir können sogar mit zwei Worten zeigen, daß wir nicht nur an uns selbst denken, sondern uns auch für den anderen interessieren?
Hömma, schon sind wir mitten im Thema. Die Fragen „Wie is? und „Und selbst?“ sind bei uns mehr als berechtigt. Sie sind geradezu Pflicht. Denn im Leben eines Ruhris geht es auf und ab, Durchschnittsbefin­den gibt es bei uns nicht. Wir sind nie satt. Entweder haben wir richtig Heißhunger – oder uns ist schlecht. Wir hier im Revier neigen zu Extremen, andersher­um gesagt: Das Unge­wöhnliche ist für uns gewöhnlich. Wir verabreden uns auf ein, zwei Bierchen, wissen aber schon vorher, daß wir voll­trunken nach Hause wanken. Die Frau sagt dir, ich beglei­te die Freundin nur ins Centro. Selbst brauche ich nichts, ich habe den Schrank ja voll. Zurück kommt sie mit Einkaufstaschen, die sie kaum alleine tragen kann.
Die Fragen „Wie is?“ und „Und selbst?“ lohnen sich schon deshalb, weil wir a) ahnen, daß irgendwas schief gegangen ist, b) was zum Weitererzählen brauchen, c) weil wir uns mit unserem „Muß“ schon geoutet haben, daß bei uns nicht alles rundläuft, und d) wir dann doch lieber das Elend des anderen hören wollen: „Und selbst?“
Butter bei die Fische. Wir hier im Revier verbindet doch, daß wir alles sein wollen, nur kein Mittelmaß; und daß wir, wenn wir ein Ziel vor Augen haben, losstürmen, als gäbe es kein Morgen. Augen zu und durch, Papa kriegt das schon auf den Pinn. Wen wundert’s, daß wir dabei ab und an stolpern, manchmal sogar auf die Fresse fallen. Was uns in solchen Situationen auszeichnet, daß wir uns schon im freien Fall Gedanken machen: Warum bin denn ich gerade wieder der Doofmann? Und wie komme ich aus der Sch… wieder raus?
Bei uns im Revier gehen der freie Fall und das Auf­rappeln quasi ineinander über, man könnte fast sagen: Es ist ein einziger Vorgang, den in dieser Perfektion nur wir beherrschen. Andere üben sich in Selbstmitleid, lecken ihre Wunden oder ganz schlimm: bleiben liegen. Nun gut, auch wir sind Meister darin, anderen die Schuld zu geben und eine dicke Lippe zu riskieren: „Hömma, du Flachpfeife …“ Aber wir können uns auch selbst auf den Arm nehmen, was fürwahr eine schwierige gymnastische Übung ist. Und wir können richtig malochen, anpacken und zeigen, wo es langgeht, so wie einst Opa vor Kohle mit dem Press­lufthammer. Warum is dat so? Vielleicht, weil dat bei uns so schön is wie nirgendwo anders, oder zumindest so tun, als ob. Und deshalb das Leben sogar dann lieben, wenn es uns gerade mal nicht liebt.
„Wie is?“ haben wir unsere Autoren gefragt. Ihre Antworten sind mehr als ein „Muß“. Ihre Geschichten erzählen von Liebe und Enttäuschungen, von Ruhrpotthelden und Versagern, die keine sind; von Orten, die wir mögen: dem eigene Garten und kleinen Buchläden, von denen es nicht mehr so viele gibt. Vielfach sind es Liebeserklärungen. An das Leben. An unser Revier. An Menschen mit kleinen Schwächen und großem Herz.
 
Weitere Informationen: http://www.vonneruhr.de