Mit niedrigem Pegelstand

Else Lasker-Schülers „Die Wupper“ zur Spielzeiteröffnung

von Frank Becker

v.l.: Ingeborg Wolff, Thomas Birnstiel - Foto © Michael Hörnschemeyer 
Spielzeiteröffnung in Wuppertal mit
Else Lasker-Schülers „Die Wupper“

Mit niedrigem Pegelstand
 
Wenn hervorragende Einzelleistungen eine gute Aufführung ausmachen würden, wäre Thorsten Pitolls Inszenierung von Else Lasker-Schülers „Die Wupper“ zur Spielzeiteröffnung der Wuppertaler Bühnen eine solche gewesen. Denn Hervorragendes war in dem zentralen Stück des schmalen dramatischen Werks der Elberfelder Autorin zu sehen, deren Name hier gleich durch zwei Gesellschaften hoch gehalten wird.
Die Armut der Färber und der Wohlstand der Fabrikbesitzer prallen ausgangs des 19. Jahrhunderts in dem für seine pietistische Enge bekannten Tal schicksalhaft aufeinander, so auch in dem Drama der aus dieser Enge nach Berlin geflohenen Dichterin, das zum ersten Mal seit 1966 nun in ihrer Heimatstadt aufgeführt wurde. Else Lasker-Schüler wußte um die sozialen Übelstände. Es war von ihr kein idealistisches Heimatstück zu erwarten. Eine packende Inszenierung des aufrüttelnden Dramas war offensichtlich erwartet worden, denn das Haus war ausverkauft.
 
Ein Vorspiel auf dem Theater vor eisernem Vorhang mit Elses „Prinz von Theben“ (Leo Lückerath) eröffnete mit Nr. VI,1 „Die Entstehung der Wupper“ aus der Bergischen Sagensammlung von Otto Schell den bis dahin noch hoffnungsfrohen Abend. Danach das Gedicht „Die Verscheuchte“ von ELS. Das dann folgende Panoptikum verdrehter, seelisch verbogener Charaktere spaltete das Publikum rasch und führte, wenn auch nicht zu einem großen Skandal wie die Uraufführung, doch zu massiver Ablehnung. Mit der Ausstattung Donald Beckers, der eine die Bühne beherrschende Kugel zum „nucleus mundi“ machte, war noch ganz gut zu leben. Wie aber Pitoll seine im übrigen vorzüglich besetzten Schauspieler unappetitlich durch das bürgerliche Drama führte, war in der Pause etlichen Gästen das Gehen und am Ende sehr vielen empörte Buhrufe wert.
 
Lag es an dem Schwall von Blut und Sperma (seit Nicky Silver ausgereizt), an plakativen Orgasmen, Masturbationen, Exhibitionismus, Ejaculatio praecox und Koitus interruptus - oder hat die Leute das Kotzen auf der Bühne gestört? Es war wohl alles das, dazu der schlecht gelöste Kunst-Dialekt und die schrille Überzeichnung der Randfiguren, als die Thomas Braus, Matthias Gall, Bernd Kuschmann und Björn Jacobsen (hier sei die ausgezeichnete Maske von Barbara Junge und Henrik Pecher erwähnt) durch die Szene geisterten und andere therapiebedürftig hyperaktiv herumtollten. Da konnten auch solide Darsteller wie Hans Richter, Andrea Witt und Ingeborg Wolff nichts herausreißen.


v.l.: Thomas Birnstiel, Julia Wolff, Markus Lerch, Andrea Witt, nn - Foto © Michael Hörnschemeyer

Was den Abend wenigstens in einigen großen Momenten durch hohe Schauspielkunst gerettet hat, war vor allem einer jungen Dame der Schauspielschule Bochum zu danken, die als Gast  die trampelige und treuherzige Dienstbotin Auguste gab: Lina Beckmann. Hier wäre die oft zitierte Bemerkung angebracht: „Ein Name, den man sich wird merken müssen.“ Eine so fulminante Leistung sieht man selten. Wohl deshalb ist sie bereits ans Schauspielhaus Zürich engagiert. Ein weiteres Kompliment ist Maresa Lühle zu machen, die sich für fünf Minuten aus ihrer Rolle als dummer, draller, vollbusiger Fratz lösen durfte und in einem ergreifenden stummen Dialog mit dem Publikum an der Rampe für Atemlosigkeit sorgte. Auch Anja Barths schnippische Bedienstete Berta auf Hi-Heels á la Gil Elvgren hatte Qualitäten und Andreas Möckel als Fabrikbesitzer-Sohn Heinrich zeigte mit seiner vielschichtigen Darstellung, daß er von Stück zu Stück immer noch zulegen kann. Ansonsten: nein danke.
 
Frank Becker, 21.9.04