Beckfelds Briefe

An Günter Wallraff

von Hermann Beckfeld

Hermann Beckfeld - Foto © Dieter Menne
Sehr geehrter Günter Wallraff,
 
na klar, hinterher ist man immer klüger. Natürlich habe ich damals Ihre Bestseller gelesen; 1977 „Der Aufmacher: der Mann, der bei Bild Hans Esser war“; 1985 „Ganz unten“, die Geschichte von Ali, dem türkischen Gastarbeiter, der 14 Stunden am Tag die Drecksarbeit zu machen hatte. Ich habe die Bücher gelesen, sie haben mich betroffen, nachdenklich gemacht, und dann verstaubten sie doch in den Regalen. In der Rückschau habe ich das Gefühl, zumindest ahne ich, daß Ihre Enthüllungsgeschichten mich beeinflußt haben. Ich lehne unseriösen Journalismus ab, mich machen erfundene, reißerische Reportagen und Schlagzeilen wütend, die Menschen Unrecht tun, sie zerstören. Und ich verabscheue es, wenn Menschen ausgenutzt werden, wie der letzte Dreck behandelt werden.
Vor einem Vierteljahr wurden Sie 74, und ich gratuliere Hans Esser, der dreieinhalb Monate als Redakteur der „Bild“ aufdeckte, wie unsauber das Boulevardblatt damals recherchierte. Ich gratuliere Ali, der unter Mißachtung aller Arbeitsschutzregeln bis zur Erschöpfung bei Thyssen malochen mußte, der trotzdem nicht schlafen konnte, weil alle Knochen schmerzten. Ich gratuliere Deutschlands bekanntestem, mutigstem Enthüllungsjournalisten, der laut Freunden erst richtig Wallraff ist, wenn er nicht Wallraff ist.
Das normale Journalistenleben in einer Redaktion war für Sie die Hölle. Sie mußten raus, in Rollen schlüpfen, Sie verkleideten sich als Waffenschieber und Mönch, spielten den Alkoholiker, setzen sich Masken auf, um nicht erkannt zu werden, nachdem Sie „Ganz unten“ berühmt gemacht hatte. Allein in Deutschland verkaufte sich das Buch mehr als fünf Millionen Mal, es wurde in 38 Sprachen übersetzt und ist damit das erfolgreichste deutsche Sachbuch seit 1945.
Sie ließen sich von niemandem und keinem noch so großen Wirtschaftsunternehmen abschrecken. Sie deckten Mißstände auf beim Versicherungskonzern Gerling, Discounter Lidl, Fastfood-Giganten Burger King, bei der Deutschen Bahn und als „schwarzer Deutscher“ Kwami Ogonno in Obdachlosenheimen. Eine dunkle Millimeter-Schicht auf der Haut reichte aus, daß viele Sie wie selbstverständlich duzten, daß Sie aufs Übelste beleidigt wurden.
Sie sind Kwami ganz nah, sind als Kind mit Verlustängsten, mit Sorgen um die Zukunft aufgewachsen. Ihre Mutter erkrankte nach Ihrer Geburt, Sie lebten eine Zeit lang im katholischen Waisenhaus, wurden auf Drängen der Ordensschwestern ein zweites Mal getauft, diesmal katholisch. Als Sie sechzehn waren, starb Ihr Vater an den Folgen seiner Arbeit in der Lackiererei von Ford. Nicht von ungefähr schrieben Sie Ihre erste Enthüllungsgeschichte über die „Lackhölle“. Bei der Bundeswehr weigerten Sie sich zehn Monate lang, ein Gewehr anzufassen, der Truppenarzt wies Sie in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts Koblenz ein. Diagnose dort: „abnorme Persönlichkeit, untauglich für Krieg und Frieden.“
Ihr Leben kannte selten gerade Wege. Sie verließen frühzeitig die Schule, brachen Ausbildungen ab, trampten durch die Welt, haben mit drei Frauen fünf Töchter; Sie sind der wundersame Wallraff, ein Sonderling, der egozentrische Einzelgänger und Selbstdarsteller, ein moderner Robin Hood, der denunzieren muß, um Mißstände aufzudecken; der so häufig vor Gericht gezerrt wurde und meistens Recht bekam; der sicherlich nicht alles richtig machte und manchmal sich selbst im Weg stand; der stets getrieben wirkt, als wäre er auf der Flucht vor sich selbst.
 
Sehr geehrter Günter Wallraff,
wir haben viel zu wenige Typen wie Sie, die anecken, die so couragiert sind und selbst Rufmorde überlebt haben. Sie versteckten Salman Rushdie auf der Flucht vor dem iranischen Staatschef Khomeini, Sie ketteten sich aus Protest gegen das griechische Militärregime an einen Lichtmast in Athen und wurden zu 14 Monaten Einzelhaft verurteilt; Sie verurteilen Erdogan als Alleinherrscher, als Diktator. Ich kann nur erahnen, wie viel Kraft Ihr Leben bisher gekostet hat. Trotzdem machen Sie weiter, sagen selbst: „Ich werde noch gebraucht.“
 
Herzlichen Glückwunsch
Hermann Beckfeld  
 


Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Ruhr Nachrichten.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin dieser Zeitung.