Beckfelds Briefe

An Ursula Happe

von Hermann Beckfeld

Hermann Beckfeld - Foto © Dieter Menne
Liebe Ursula Happe,
 
erinnern Sie sich noch? Es ist gefühlt gute sechs, sieben Jahre her, da haben wir uns zum Interview im Freibad Dortmund-Wellinghofen getroffen. Zuerst haben wir uns unterhalten, dann wollten wir zusammen einige Bahnen schwimmen. Wasserratte traf auf Schwimm-Muffel. Sie sprangen stilvoll, dynamisch mit dem Kopf voran ins Wasser, ich nahm lieber die Treppe. Und schon nach wenigen Minuten hatte ich Sie aus den Augen verloren; Sie kraulten mindestens doppelt so schnell wie ich. Nach 2000 Metern stiegen Sie elegant und locker aus dem Wasser; ich schlich beschämt und geschafft zu den Umkleidekabinen.
Am 20. Oktober feierten Sie Ihren 90. Geburtstag. Unglaublich. Auch heute noch, kurz nachdem um 7 Uhr der Bademeister in Wellinghofen die Eingangstore aufgeschlossen hat, ziehen Sie jeden Morgen Ihre Bahnen, immer ganz links im Becken, direkt an den Fliesen. Im Winter trainieren Sie im Hörder Hallenbad. Noch unglaublicher, diese Steigerungsform sollte bei Emotionen erlaubt sein: Vor unendlich langen sechs Jahrzehnten haben Sie bei den Olympischen Spielen in Melbourne die Goldmedaille über 200 Meter Brustschwimmen gewonnen; da war ich gerade mal ein Jahr alt.
Sie siegten sensationell, überraschten mit Ihrer großartigen Leistung die Experten und am meisten wohl sich selbst. Schließlich hatten Sie zuvor jahrelang pausiert; erst im und auch nach dem Krieg; später, um Ihre Kinder groß zu bekommen. Richtig trainieren konnten Sie für den Wettkampf Ihres Lebens nicht. Ehemann Heinz Günter, Finanzinspektor in Dortmund, mußte früh ins Amt, und die Kinder brauchten die Mutter. „Wenn ich Glück hatte, ließ mich der Hausmeister des Hallenbades vor halb sieben rein. Aber selbst dann hatte ich nur Zeit für einen Kilometer, dann mußte ich schnell nach Hause.“ Ich kann noch einen draufsetzen: Heute gleiten Weltklasse-Schwimmer in Hightech-Anzügen durchs Wasser; sie sind ihre zweite Haut. Außerdem werden die Olympia-Teilnehmer von Kopf bis Fuß von Sponsoren eingekleidet. Sie haben sich um Ihre Ausrüstung selbst kümmern müssen, häkelten sich den Badeanzug, in dem Sie zu Gold schwammen.

Ich bewundere Sie. Sie sind die patente, resolute, bodenständige und völlig uneitle Ursel, der letztendlich die Familie wichtiger war als jeder Sieg; die nie mit diesem grandiosen Erfolg prahlen würde, fast so, als wäre der Sieg in Melbourne Nebensache; die stets im Leben, nicht nur als stummer Fisch im Wasserbecken, den kürzesten, schnellsten und geradlinigen Weg bevorzugt; die wußte, wann Schluß ist. Direkt nach dem Olympiasieg in Australien haben Sie Ihren Rücktritt erklärt. 
Ich liebe Ihren trockenen Humor; ich nenne ihn „Westfälischen Humor“, auch wenn Sie in Danzig als Sohn eines Bademeisters geboren wurden. „Heute schwimme ich viel mehr als damals“, sagten Sie mir in Wellinghofen und fügten nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich habe ja jetzt auch viel mehr Zeit.“
Nur selten wirkten Sie aufgewühlt, da gaben Sie Gefühle preis. Beispielsweise, wenn Sie von Ihren vier Kindern sprachen, auch von Thomas, der 1984 mit den Handballern Silber gewann. Oder wenn Sie von dem turbulenten Rückflug aus Melbourne erzählten. „Das Gemüse flog uns nur so um die Ohren.“ Von der Medaille, die im Plastikkästchen hin- und hergeschleudert wurde, platzte die Goldbeschichtung ab. Heute wird Olympia-Stars am Flughafen der rote Teppich ausgerollt. Sie empfing niemand, Sie fuhren allein mit dem Zug weiter, der nach Duisburg umgeleitet wurde, weil im Dortmunder Bahnhof ein Sonderzug mit der Borussen-Mannschaft erwartet wurde.
 
Liebe Ursula Happe,
ich bin stolz, daß ich zwei Olympiasieger von 1956 persönlich kennenlernen durfte. Hans Günter Winkler, der mit seinem Wunderpferd Halla Reitsportgeschichte schrieb. Und Sie, die Gold-Mutter aus Dortmund. Sie beide verbindet nicht nur die Medaille, nicht nur das Lebensalter. Sie verbindet, daß Sie ein Leben lang Ihre Sportart lieben werden.
 
Hochachtungsvoll
Hermann Beckfeld
 
 


Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Ruhr Nachrichten.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin dieser Zeitung.